Adultismus und Audismus: Über kritisches Erwachsenwerden und das Privileg zu hören

von Dana Cermane

Dana Cermane gebärdet über das Privileg zu hören und wie man Diskriminierung gegenüber Tauben und Schwerhörigen Menschen mit Adultismus zusammendenken kann. Vor welchen Herausforderungen stehen insbesondere junge Taube Personen? Dana Cermane erzählt von persönlichen Erfahrungen und entlarvt dabei strukturelle Audismen. 

Transkript

Eine Frage in den Raum: Kennt irgendjemand hier das Wort Audismus oder die Diskriminierungsdimension Audismus? Es gehen ein paar Hände hoch, aber relativ wenig! Okay, dann fasse ich die Definition von Audismus ganz kurz zusammen: Audismus fokussiert sich auf die angebliche Wichtigkeit und den hohen Stellenwert des Hörens und Sprechens. Dagegen werden Personen, die Gebärdensprache verwenden, nicht wertgeschätzt. Gebärdensprache selbst wird weltweit nicht als vollwertige Sprache anerkannt und marginalisiert. Damit wird die (kulturelle) Teilhabe Tauber Menschen an der Gesellschaft stark eingegrenzt.

Audismus an Schulen

Fehlende Gebärdensprache bei Lehrenden

In Kindergärten oder im schulischen Bereich mit Tauben Kindern, wie z.B. Taubenschulen, habe ich sehr oft beobachtet, dass Erzieher*innen kaum gebärden können. Das heißt, Taube und schwerhörende Kinder stoßen sehr stark auf Barrieren in Bezug auf die Kommunikation mit den Erzieher*innen und Lehrer*innen. Dagegen herrscht unter den Lehrenden sehr häufig das Bild vor, man müsse ja nicht so kompetent sein und erwarten, gebärden zu können. Das schafft enorme Kommunikationsbarrieren zwischen Lehrenden und Schüler*innen.

Historisch gesehen ist es wichtig zu wissen, dass Gebärdensprache lange verboten war. Erst 2002 wurde die Gebärdensprache in Deutschland anerkannt. Man merkt seitdem zwar eine Entwicklung, sodass mehr und mehr Lehrende Gebärden sprechen oder zumindest dafür sensibilisiert sind, aber wir sind sehr weit davon entfernt, an Schulen eine hundertprozentige Gebärdensprachkompetenz vorzufinden.

Stattdessen wird in großen Teilen des Schulalltags von Tauben Kindern und Jugendlichen immer noch der Fokus auf das Sprechreden und die Logopädie gesetzt. Das bedeutet, dass das Ziel nicht etwa ist, eine audismuskritische Bildung zu ermöglichen, sondern dass sich Taube und schwerhörende Schüler*innen an die Normen anpassen und sich in bestehende Machtstrukturen von Institutionen wie die Schule einordnen sollen.

Sprachentzug (language deprivation)

Was in der Verknüpfung von Audismus und Adultismus auffällt, ist das Machtgefälle, das beispielsweise in Schulen und Kindergärten besteht. Neben der generellen Diskriminierung von Kindern an Schulen (siehe S. XX, Philip Meade), bestehen speziell in Bezug auf Taube Kinder weitere Diskriminierungen und Benachteiligungen durch Informationsmangel. Das stellt ein sehr großes Problem dar, weil an Schulen viele Formen der Vermittlung verwendet werden, die an den Tauben Kindern und Jugendlichen vorbeigehen. Stattdessen wird erwartet, dass sich Kinder und Jugendliche anpassen sollen, z.B. indem sie sprechen sollen.

Ein Problem ist auch, dass Taube Lehrkräfte wirklich Mangelware sind. Daher ist der Kampf Tauber Menschen, Gebärdensprache im Unterricht benutzen zu wollen, nach wie vor Alltag. Das ist, was wir Sprachentzug nennen, im Englischen language deprivation.
 

Audismus in den Medien

Oft werden Medien als Bereiche genannt, in denen Barrierefreiheit einfacher möglich wäre. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Es gibt meistens keine Untertitel bei Videos, selbst bei Instagram. Über Medien erhalten wir wichtige Informationen und doch sind Medien für uns Taube Personen oft überhaupt nicht zugänglich und überhaupt nicht gut möglich.
 

Sensibilisierung für das Privileg zu hören

Es ist ein sehr sensibles Thema, Audismus als Taube Person in einem dominant hörenden Raum wie hier auf der Bühne anzusprechen. Heute sind nur zwei Taube Menschen anwesend und ich mache oft die Erfahrung, dass Hörende sehr viele Abwehrmechanismen haben, wenn sie auf ihre hörenden Privilegien angesprochen werden. Ich begegne sehr vielen Berührungsängsten und mein Tipp, den ich daher hörenden Menschen geben will: Besucht Workshops zu Audismuskritik, zu Privilegien des Hörens und beschäftigt euch mit Selbstkritik, weil Audismus gerade im Bildungswesen stark vorherrscht und intersektional mit Adultismus verschränkt ist.


Kein Geld für Taube und junge Projektmachende

In Bezug auf Audismus und Adultismus möchte ich euch von einer eigenen Erfahrung erzählen, die ich im Teenageralter gemacht habe. Mit 16 Jahren engagierte ich mich in dem Tauben Jugendverein  jubel³ mit Gebärdensprache e.V. Ich war damals die erste vorsitzende Person und habe dort viel mit aufgebaut. Wir hatten viele Interessen, unsere Ansprüche waren sehr hoch und wir hatten viele Ideen für Projekte. Wir wollten als Team Anträge stellen und so richtig loslegen, haben uns Gedanken gemacht und hatten eine konkrete Projektidee. Doch am Ende konnten wir sie nicht umsetzen, weil wir als Taube, jugendliche Antragstellende nicht ernst genommen wurden. Dabei dachte ich, mit 16 Jahren würde ich eher als Erwachsene*r angesehen. Ich probierte es ein weiteres Mal, aber wieder wurden wir in keiner Weise ernst genommen. Stattdessen wurde uns wurde gesagt, wir bräuchten eine*n hörende*n Kooperationspartner*in – nur dann könne die Projektförderung bewilligt werden. 

An diesem Beispiel sieht man, wie mindestens zwei Diskriminierungsebenen wirkmächtig werden und zweifache Diskriminierung stattfindet. Wir mussten daraufhin kostenlos! gleich doppelte Aufklärungsarbeit leisten, dass hier Adultismus und Audismus stattfindet und dass wir als Taube, junge Menschen in der Geldvergabe berücksichtigt werden müssen.
 

Drei Beispiele aus dem Alltagsaudismus

Dazu kommen auch ganz alltägliche Barrieren, die wir als Taube Personen in Bezug auf Audismus machen. Das fängt schon an, wenn ich S-Bahn oder U-Bahn fahre und Informationen nur über die Durchsage aufgegeben werden. Es gibt z.B. einen Gleiswechsel und auf einmal laufen alle Menschen los. Ich dagegen stehe dann da und weiß nicht, was passiert, weil ich keine Informationen kriege.

Oder ich möchte einfach nur Brötchen in der Bäckerei kaufen und versuche mit Hand und Fuß oder schriftlich per Handy zu kommunizieren. Manchmal habe ich keine Lust, ins Handy zu schreiben und denke, für die drei Brötchen werden sie sich schon auf meine für Hörende angepasste Gestik einstellen können. Aber hörende Leute sind wirklich zum Teil sehr verbohrt und können sich überhaupt nicht auf Körpersprache einlassen. Ich meine, ich gebärde ja dann nicht mit ihnen, sondern versuche, meinen Körper angepasst an dich zu nutzen. Aber Leute sind da irgendwie sehr stur und es fällt ihnen häufig sehr schwer, sich darauf einzulassen.

Ein weiteres, letztes Beispiel von vor drei Jahren. Ich hatte einen Arzttermin, der mir sehr, sehr wichtig war. Ich hatte versucht, Dolmetscher*innen zu organisieren, was aber nicht klappte – übrigens ein häufiges Problem, weil es an Dolmetschenden generell mangelt. Ich bin dann also allein in die Arztpraxis gegangen. Weil ich die Situation kenne, aufgerufen zu werden und das natürlich nicht zu hören, hatte ich bereits vorher an der Anmeldung extra mitgeteilt, dass sie bitte zu mir kommen sollen, um Bescheid zu geben. Da saß ich also im Wartezimmer, eine Stunde war schon vorbei. Plötzlich kam dann die Ärztin zu mir und schimpfte mich vor allen Leuten im Raum an. Wo denn meine Dolmetscher*innen seien, das könne ja wohl nicht sein, wie solle man denn jetzt mit mir kommunizieren. Da merkte ich, wow, ich werde hier vor allen Menschen angegriffen und bin gegangen. Zugleich dachte ich aber auch, moment mal, es gibt hier gerade gar kein Problem! Ich bin jeden Tag mit Hörenden konfrontiert und kenne viele verschiedene Wege zu kommunizieren: über Schrift, über Hand und Fuß. Das wurde aber überhaupt nicht gesehen. Ich vermute, dass die Person Angst hatte, ohne Dolmetschende zu kommunizieren oder Fehler zu machen, aber es gab überhaupt nicht die Frage an mich, welche Möglichkeiten es gibt. Ach, ich könnte unendliche Beispiele erzählen, aus allen Bereichen, die mir tagtäglich begegnen.
 

Gebärdensprache als Pflichtfach

Wir stoßen also an zahlreiche Stellen, die ganz, ganz viel Veränderung brauchen. Eine davon wäre, dass es an Schulen und am besten auch schon in Kindergärten, ein Pflichtfach gäbe, in dem gewisse Gebärden gelernt werden und in dem sich Schüler*innen mit den Privilegien zu hören auseinandersetzen. Bisher gibt es das nicht. Dabei gibt es ein Recht auf Bildung für Taube Kinder. Das bedeutet dementsprechend, dass hörende Kinder und damit auch hörende Lehrkräfte gewisse Gebärden lernen und sprechen sollten.

Egal in welchem Bereich ihr arbeitet, ob Bildung oder in Institutionen, holt euch Taube Expertise, belegt Workshops zu verschiedenen Themen, damit ihr euch sensibilisieren könnt und damit eine Zusammenarbeit mit Tauben Personen einfacher gewährleistet werden kann.


Dana Cermane ist Blogger*in, Performer*in, Schauspieler*in und Filmemacher*in. Als Aktivist*in beschäftigt sich Dana mit queeren Themen, der Gleichstellung von Gebärdensprache, Taubenkultur und Belangen von Jugendlichen. Dana war langjährig Vorstand im Tauben Jugendverein jubel3 mit Gebärdensprache e. V. und ist Mitgründer*in des Queer-Referat der Deutschen Gehörlosen-Jugend e.V. Dana liebt es, Diskriminierungsmechanismen, das Bildungssystem und den Kapitalismus zu hinterfragen. Auf Instagram thematisiert Dana in gebärdensprachlichen Videos Adultismus, Hearing Privileg und Sexualität. Instagram

Audismus und Adultismus: Über kritisches Erwachsensein und das Privileg zu hören