Glossar: Adultismus
von Simbi Schwarz
Simbi Schwarz dekliniert A-D-U-L-T-I-S-M-U-S Buchstabe für Buchstabe durch.
A wie Anlügen
Wer kennt sie nicht, die Märchen vom Weihnachtsmann, Osterhasen oder der Zahnfee. Einerseits erzählt, um die Festtage und Meilensteine etwas magischer zu gestalten, anderseits auch gerne dazu genutzt, um sich die Erziehung zu vereinfachen. Ich meine, „Santa sieht alles und weiß, wenn du ungezogen warst“? Um ehrlich zu sein, ich wäre als Eltern ja ernsthaft besorgt, würde eine fremde Person wie Santa so viel über mein Kind wissen – aber das ist nur meine bescheidene Meinung. So wie es ebenfalls meine bescheidene Meinung ist, dass man Kinder nicht schon im jungen Alter mit Doppelmoral bekannt machen sollte, indem man ihnen lehrt, Lügen sei schlecht und man solle nicht lügen, wobei Erwachsene selbst tagtäglich ihre Kinder anlügen statt Sachzusammenhänge einfach zu erklären.
D wie Dumm machen und Wissen absprechen
„Ach, das kannst du doch noch gar nicht wissen.“ „Ach, Schatz, das ist doch nur eine Phase.“ Kommen euch diese Sätze bekannt vor? Ich wünschte zwar nicht, aber bei manchen weckt das bestimmt die ein oder andere Erinnerung. Kinder werden quasi daran gewöhnt, ihre Meinungen, Gefühle und Ansichten abgesprochen zu bekommen und von Erwachsenen bewundert zu werden, wenn sie „mal“ etwas wissen, was über ihren zugewiesenen Bildungsstand hinausgeht. Ich möchte hier vor allem den Punkt ‚Wissen absprechen‘ herausstellen und anmerken: Wenn unser Ziel eine individuelle, selbstbewusste und vor allem respektvolle Gesellschaft ist, wirken die oben genannten Phrasen wie Gift dagegen. Sie führen dazu, dass sich Kinder vor ihren Erwachsenen verschließen. Sie lernen, dass es okay ist, anderen Menschen Gefühle, Meinungen und Ansichten abzusprechen. Wir sollten stattdessen jungen Menschen schon von klein auf beibringen, dass das, was sie fühlen, valide ist und dass sich Meinungen und Ansichten auch ändern und das auch normal und okay ist.
U wie Unsichtbar machen
Folgendes Erlebnis ist mir bis heute präsent und verbildlicht gut, wie junge Menschen unsichtbar gemacht werden: Als ich sieben oder acht Jahre alt war, ging ich mal mit meiner Oma einkaufen. Wir trafen eine Bekannte von ihr. Erstmal super nervig, weil es für mich in diesem Alter nichts Langweiligeres gab als Erwachsene, die Smalltalk führen. Aber adultistisch wurde es, als sie dann anfingen, über mich zu reden, ohne dabei auch nur wenigstens so zu tun, als ob ich abwesend sei. In diesen Situationen ist es für junge Menschen essentiell, selbst für sich zu sprechen und selbst zu entscheiden, welche Informationen und in welchem Maß sie diese mit fremden Menschen teilen wollen. Auch wenn es die beste Freundin der Oma ist. Junge Menschen sollten auch nicht gleich als unhöflich abgestempelt werden, nur weil sie sich entscheiden, zu schweigen.
L wie Lächerlich machen
Eigentlich wollte ich diesen Punkt einleiten mit, „ein klischeehafter Klassiker“. Da mir das aber persönlich oder in meinem persönlichen Umfeld noch nie vorgekommen ist, zeigt das, dass wir schon auf einem guten Weg sind, oder? Worauf ich hinaus möchte, ist folgendes: Jede*r hat bestimmt in Film oder Fernsehen schon die klischeehafte Situation gesehen: Freunde von einem Kind kommen vorbei und die Mutter holt erstmal das Fotoalbum mit den ganzen peinlichen Kindheitsfotos raus. Adultistisch daran ist, dass peinliche und schambehaftete Momente des Kindes ohne dessen Erlaubnis geteilt und sie so vor Freunden lächerlich gemacht wird. Das Gefühl Scham hört mit dieser Situation nicht auf. Erwachsene machen Kinder damit zu schambehafteten Personen. Diese erleben auch später als Erwachsene immer wieder Scham, weil sie es gelernt haben.
T wie Tadeln
Tadeln ist jetzt eventuell nicht etwas, was exklusiv bei Kindern gemacht und/oder internalisiert wird. Jedoch ist die Form besonders, wie Kinder getadelt werden: Immer von oben herab, manchmal mit dem unnötigen Vorlauf: „Hab ich es dir nicht schon 1000 mal gesagt?“ - wo manche Kinder eher abschalten als zu verstehen. Dabei muss ich auch kritisch fragen, warum im vornherein bereits festzustehen scheint, dass immer die Erwachsenen Recht bekommen? Wenn Erwachsene Kinder belehren, z.B. weil sie Fehler machen oder manchmal auch einfach nur weil Kinder Kinder („kindisch“) sind („Wie kann man sich nur so benehmen?“), erschaffen Erwachsene eine intolerante Generation. Junge Menschen lernen so, dass aus Fehlern und Konflikten immer Tadel folgen. Und dass sie den nervigen Monolog aushalten müssen, statt in ein Gespräch zu gehen. Sie lernen nicht, mit Fehlern umzugehen oder auch zu diskutieren. Stattdessen wissen sie, dass man nichts aus einem Konflikt oder Streit mitnehmen kann und das ist nicht wünschenswert.
I wie Idealisieren
Natürlich ist es wichtig, dass die kleine Emely schon in der ersten Klasse nur Einsen schreibt. Anders wird sie ja nicht Ärzt*in. Nur schon mal im voraus: Ich habe nichts gegen Leute, die Emily heißen, ich habe nur was gegen Erwachsene, die Kinder in ihr Ideal rein erziehen wollen. Sei es, damit sich ihre Kinder ein besseres Leben leisten können als man selbst oder weil man da ja noch diesen einen Traum hatte, den man sich nicht erfüllen konnte und den man ja jetzt einfach an die nächste Generation weitergeben könnte. Kinder und junge Erwachsene werden nicht als die eigenständigen Menschen betrachtet, die sie sind - mit ihren eigenen Wünschen. Wir sollten am Ende den Grundsatz „solange du glücklich bist“ ein wenig mehr leben, weil glücklich sein am Ende unsere größte Ressource ist. Und weil es der kleinen Emely auch nichts bringt, ihre Kindheit damit zu verschwenden, für eine Job zu lernen, den sie nie wollte. Nur weil Mutti oder Vati es so wollte. Und das vertrete ich auch nur, weil Menschen die unglaubliche Fähigkeit haben, für das, was sie wirklich wollen, gern zu lernen. Solange es sie zu ihrem Glück führt, sollten Kinder selbst Prioritäten setzen, unabhängig davon, was die Eltern jemals wollten.
S wie Stimme verstummen lassen
Wurde euch als Kind schonmal gesagt, dass ihr von nix reden sollt, wovon ihr keine Ahnung habt? Oder aber auch, dass ihr in der Gegenwart von Autoritäten respektvoll zu sein habt und am besten nicht redet? Oder wurdet ihr anderweitig davon abgehalten, eure Meinung kund zu tun? Dann herzlichen Glückwunsch, ihr habt mehr oder weniger erfolgreich gelernt, dass euer Schweigen wertvoller ist als eure Meinung zu äußern. Das führt ganz einfach dazu, dass Stimmen von Kindern ein niedrigerer Wert zugesprochen wird. Deshalb nehmen sich Erwachsene auch das Recht heraus, über Konzepte zu bestimmen, die direkt mit Kindern zu tun haben, und ebenso aktiv einen fruchtbaren Diskurs abzulehnen.
M wie Missverstehen
Ich finde es schon echt beeindruckend, welche Kopf-Akrobatik Erwachsene anwenden, um Kinder nicht verstehen zu müssen (oder zu wollen). Sei es, weil sie in einer Sache smarter sind oder weil sie eine Entscheidung von dem Kind in Frage stellen und unbedingt klar machen wollen, dass sie recht haben – auch wenn sie gar nicht über den eigentlichen Punkt diskutieren. Wie oft habe ich mir schon gedacht, „boa, auf diese Diskussion gehe ich jetzt nicht ein, wenn ich zwanghaft missverstanden werden will.“ Heißt also, stumm lächeln und nicken, was eine wundervolle Methode ist, um sein Gegenüber mundtot zu machen, nicht wahr?!
U wie Unterschätzen
Ich bin mir sicher, dass hier jede*r unzählige Beispiele von Situationen nennen kann, in denen Eltern vorschnell geurteilt haben: „Nein, das kann unser Kind noch nicht“ oder „nein, das weiß unser Kind noch nicht“. Ein Beispiel: Besonders in der Grundschule, wo man von Zeit zu Zeit den Stoff schon vorher gelernt hat, z.B. in der Vorschule, könnte man die Chance bekommt, zu beweisen, dass man die dritte Reihe schon auswendig kann. Doch anstelle beeindruckt oder lobend zu sein, kommt es häufig vor, dass Eltern dann eher peinlich berührt sind, dass sie das nicht über ihr Kind wussten. Das kann schnell dazu führen, dass man sich als Kind unterbewusst immer öfter die Frage stellt, „darf ich das überhaupt schon wissen?“ und „soll ich es jetzt überhaupt versuchen, wenn doch eh erwartet wird, dass ich es nicht weiß?“ Das führt schnell zu dem Gefühl bei Kindern, dass niemand an sie glaubt. Es ist unglaublich schade, dass man so viel Potentiale eines Menschen untergräbt.
S wie Schuld zuschreiben
Angenommen im Haushalt fehlt etwas oder ist kaputt gegangen: Ist euch schon mal aufgefallen, dass die Gespräche immer eher in Richtung „Willst du mir was sagen?“ anstelle von „Weißt du vielleicht, was damit passiert ist?“ gehen? Aufgrund von Alter schließen wir gern darauf, dass es more likely ist, dass Kinder etwas aus Versehen kaputt gemacht haben, als dass irgendetwas anderes passiert ist. Dadurch wird eine Unwahrheit wahrscheinlicher als die wirkliche Wahrheit. Um ehrlich zu sein, entschuldige ich mich oft einfach lieber, weil ich statt einer Frage eine indirekte Anschuldigung höre. Das mache ich, selbst wenn ich keine Schuld habe, weil wir gelernt haben, dass statt einer Diskussion ein nerviger Monolog folgt. Und dass immer super anstrengend ist. Wie doppelmoralisch das Lügen und Entschuldigen doch sind, wenn es ins eigene Weltbild passt, nicht?!
Simbi Schwarz hat schon als Kind begonnen, sich gegen Adultismus einzusetzen und sich für Empowerment zu engagieren. Als starke junge Stimme steht sie für ein neues Selbstbewusstsein, das sich im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten zwischen Jung und Alt immer lauter Gehör verschafft.
Zusammen mit ihrer Mutter ManuEla Ritz brachte sie 2022 das Wendebuch „Adultismus und kritisches Erwachsensein“ heraus.
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