Im Gespräch: Über Adultismus und Ableismus

Audio-Beitrag von Hussein Kalakech (Polyrama Young)

Porträt von Hussein Kalakech, Illustration von Maike Siu-Wuan Storf

Hussein Kalakech von Polyrama Young spricht mit Kunstvermittlerin Maike Siu-Wuan Storf darüber, wie er Adultismus erfährt als Person mit Lernbehinderung in der Kulturellen Bildung. Warum ist es wichtig, einen Begriff wie Adultismus zu haben? Wie erlebte er Adultismus in der Schule und in Kunsteinrichtungen wie Museen? Dabei bringt Hussein Adultismus mit Klassismus und Ableismus zusammen. 

Im Gespräch: Hussein Kalakech & Maike Siu-Wuan Storf
Illustration: Maike Siu-Wuan Storf
Idee: Hussein Kalakech 

[Hören 01:04:40]

Transkript

Hussein: Ich bin Hussein,19 Jahre alt und mache ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei Polyrama – Museum für Lebensgeschichten.

Maike: Ich bin Maike, ich kenne dich über das Polyrama-Young, weil ich dort kulturelle Bildnerin bin und in der Vermittlung arbeite. Da sind wir uns das erste Mal im Herbst 2023 begegnet. Dieses Jahr arbeiten wir wieder zusammen und erarbeiten eure jungen Perspektiven auf Jugendliche und junge Menschen. Ich bin 42 Jahre alt. Das heißt, dass ich vermutlich diejenige bin, die sich im Verhältnis zu dir adultistisch verhält. Würdest du kurz erzählen, was das Polyrama ist, was du dort machst und wie du dorthin gekommen bist?

H: Das Polyrama – Museum für Lebensgeschichten ist ein Museum, in dem Lebensgeschichten von Menschen aus unterschiedlichen Schichten gesammelt und archiviert werden. Ich habe dort verschiedene Aufgaben – praktisch, aber auch inhaltlich. Zum Beispiel nehme ich an Projekten mit Schulen teil und mit Anna Chrusciel und Sadaf Farahani, die das Museum quasi gegründet haben, erkläre ich Schüler*innen, was sie machen sollen.

M: In der Polyrama-Herbstwerkstatt haben wir das, was ihr in der Polyrama-Young-Gruppe erarbeitet habt, zu einer Ausstellung zusammengefasst. Dieses Jahr sammeln wir Gedanken und Ideen dazu, wie wir Vergangenheit mit der Zukunft verbinden können. Wir suchen hierfür verschiedene Formen, in denen das ausgedrückt werden kann. Wie genau hast du zur FSJ-Stelle beim Polyrama gefunden?

H: In der Schule hatte ich noch keine Idee, was ich danach machen möchte. Ich habe überlegt und mir gesagt, ‘Nee, dieses Jahr habe ich keine Lust auf eine Ausbildung. Gibt es irgendeine Alternative?’ Dann habe ich vom FSJ erfahren, mich ein bisschen im Internet umgeguckt und bin dann auf das Polyrama gestoßen. Ich habe dann direkt eine Bewerbung geschrieben, bin gekommen, habe mich vorgestellt und wurde genommen.

M: Mit dem Open Call von kultur_formen sind wir auf den Begriff Adultismus gestoßen. Wir haben uns jetzt schon ein paar Mal darüber unterhalten, weil ich den Begriff noch gar nicht so lange kenne. Wie war das für dich, kanntest du den Begriff schon?

H. Ich kannte ihn ehrlich gesagt auch nicht. Ich habe Adultismus erst jetzt kennengelernt. Der Begriff hat mich erst überrascht, weil er erklärt, dass es ältere Menschen gibt, die Jüngere diskriminieren. Ich habe dann überlegt und gedacht: Ach, Adultismus hat man als Kind safe schon mal erlebt. Ich habe es z.B. erlebt, wenn die Eltern gesagt haben, ‘nein, du kannst da jetzt nicht mit’ oder ‘du bist zu jung dafür’. Und das ist diskriminierend. Denn das passiert nur dann, wenn du jünger bist.

M: Ja, in der Beziehung von Eltern gegenüber Kindern entsteht eine Machtsituation oder ein Machtgefälle, in dem die einen über die anderen bestimmen dürfen. Das ist keine Form von gleichberechtigter Kommunikation. Ich finde aber, oft wird Adultismus auf die Beziehung von Eltern und Kindern reduziert. Es wäre auch wichtig, darüber nachzudenken, wie sich Institutionen zu jüngeren Personen verhalten. Gerade wenn wir vom System Schule reden. Versteht dieses Schüler*innen als autonome, also für sich stehende Personen, die ihren eigenen Willen haben? Oder kann das System Schule nur dadurch funktionieren, indem es praktisch von Schüler*innen ausgeht, die dem System Schule unterstellt sind? Ähnlich ist es dann mit dem, was Bildung genannt wird. Jeder von uns kennt das: nicht alles interessiert uns gleichermaßen. Die Idee von Bildung geht aber davon aus, dass es etwas gibt, was uns alle interessieren sollte. Sonst sind wir möglicherweise nicht gebildet. 

Ich finde auch interessant, dass Adultismus nicht sehr geläufig ist und man sich dem Begriff überhaupt erst mal annähern muss. Witzigerweise ist aber das Gefühl dazu direkt da. So wie du dich auch sofort an adultistische Situationen erinnert hast:  Nämlich die Erfahrung und das Unbehagen, ungerecht behandelt worden zu sein, sich kleiner und nicht gleichberechtigt zu fühlen. Und plötzlich hast du diesen Begriff dazu.

H: Ja, stimmt.

M: Ich finde schwierig, dass er auf diese Eltern-Kind-Situation reduziert und damit zu einer privaten Situation gemacht wird. Ich finde es spannend, wenn wir uns darüber unterhalten, wie wir Räume schaffen können, in denen wir uns auf unsere Gedanken dazu, wie alt wir sind und wie wir uns gleichberechtigt begegnen können und trotzdem auch auf die Bedürfnisse, die Menschen in unterschiedlichen Altersstufen haben, eingehen. An welche adultistische Erfahrungen denkst du, wenn du an Schule oder Museen denkst?

H: Wenn ich an Adultismus in meiner Schulzeit denke, gibt es nicht nur den Eltern-, sondern auch immer den Lehrer*innenbezug. Ich habe eine Lernschwäche und wurde dadurch von Lehrer*innen früher immer anders behandelt: Ich habe andere Arbeiten geschrieben, Lehrer*innen haben mir nicht vertraut in den Sachen, die ich trotz ihrer Erwartung kann. Sie haben mir trotzdem kein Vertrauen gegeben. Ein kleines Beispiel: Immer, wenn etwas ins Sekretariat abgegeben werden musste, hat meine Lehrerin eine andere Person geschickt, obwohl ich mich immer gemeldet und gesagt habe, dass ich das auch schaffe. Dadurch bekommt man ein Ungleichheitsgefühl – ein beschissenes Gefühl. Aber ich habe nicht dagegen protestiert und das einfach mit mir machen lassen. Es gab viele dieser Situationen. Und das geht nicht nur von Eltern, sondern auch von Lehrer*innen und anderen Schüler*inen aus. Auch unter jungen Menschen kommt Adultismus vor.

M: Das heißt, dass dir Vertrauen entzogen wird.

H: Diese Lernschwäche ist so eine Sache. Sie wird nicht so stark von meinem persönlichen Umfeld, aber von Lehrer*innen, von Menschen, die zum Beispiel in der Berufsagentur arbeiten oder von Sozialarbeiter*innen, gesehen. Deshalb behandeln sie mich anders. Was erstmal nicht schlecht ist, weil ich weiß, dass ich viele Schwächen habe und sie mich irgendwie unterstützen wollen. Nur gibt es auch manche Sachen, die ich trotzdem schaffe, von denen die Leute denken, ich würde es nicht schaffen.

M: Also das heißt, du machst die Erfahrung, bevormundet zu werden?

H: Nicht bevormundet, eher das Gegenteil. Ich kriege nicht das Vertrauen, dass ich das schaffen kann. Und etwas allgemeiner, dass immer diejenigen, die für dich zuständig sind oder die Person, mit der du gerade bist, das Vertrauen nicht dir, sondern einer anderen Person gibt, obwohl du das auch schaffen kannst und willst. Und das ist, was immer verletzt.

M: Du hast eben gerade auch gesagt, dass es weh tut. Bevormundung meinte ich auch in dem Sinne, dass du nicht für dich selbst und darüber sprechen kannst, was du kannst und machen möchtest. Stattdessen entscheidet jemand anderes für dich.

H: Ja.

M: Und es wird dann manchmal so signalisiert, als wäre das Support oder Rücksichtnahme. Mir fällt gerade dazu kein besseres Wort als Bevormundung ein, weil es einfach so übergriffig ist, für dich zu entscheiden.

H: Der entscheidende Punkt ist, dass sie nicht darauf achten, dass mich die Lernschwäche nicht allein als Mensch ausmacht. Deshalb rede ich auch nicht gerne darüber, auch mit der Familie und Freund*innen. Ich habe nicht das Gefühl, dass die das nicht verstehen, aber ich finde, die haben nicht diese Empathie oder dieses Emotionale, einem richtig zuzuhören.

M: Ich find es so krass, dass du super offen damit umgehst, eine Lernschwäche zu haben und dass es dir auch Hindernisse bereitet.

H: Ja klar, es bereitet mir tatsächlich sehr stark Hindernisse. Die Leute nehmen es halt nur nicht wahr. Die Lernschwäche wird nicht genau angesehen wie eine körperliche oder kognitive Behinderung. Das belastet einen natürlich.

M: Verstehe ich dich richtig: Es ist so, dass du die Nachteile von der Lernschwäche zu spüren bekommst, aber nicht die Rücksichtnahme, die eigentlich so eine Schwäche mit sich bringen sollte?

H: Naja, ich will auch nicht, dass das immer Thema bleibt, wenn ich mit meinem persönlichen Umfeld etwas tue. Ich will gar nicht über diese Lernschwäche reden, sondern einfach Spaß haben. Es soll nicht immer speziell um mich gehen. In dem Sinne habe ich auch keine Erwartungen an meine Freunde oder Familie, das will ich gar nicht.

M: Als wir angefangen haben, uns Gedanken zu Adultismus zu machen, haben wir eine Situation aufgeschrieben, die du auf deiner Seminarfahrt erlebt hast. Da hattest du erzählt, dass ein Großteil der anderen FSJler Abitur gemacht haben...

H: .. und studieren wollen. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht in diesen Rahmen passe.

M: Du hast diese Erfahrung gemacht, in einen Raum zu kommen, wo die anderen ganz andere Bildungshintergründe haben. Und dass andere gleichzeitig voraussetzen, dass alle diesen Bildungshintergrund haben.

H: Ich kann mich erinnern, dass mich eine Person auf der Seminarfahrt gefragt hat, was ich denn später studieren will. Und ich so: ‘Was? Ich studieren? Nix.’ Die Leute können es zwar nicht wissen, man kennt sich ja nicht. Trotzdem ist es eine Belastung, wenn jemand diese Frage stellt und ich dann sagen muss, dass ich gar nicht rein passe, niemals studieren werde. Ich habe noch nicht mal den Abschluss dazu. Ich muss mich immer rechtfertigen. Was ich persönlich nicht so schlimm finde, aber es tut trotzdem irgendwo weh. Denn an sich würde ich natürlich auch das erreichen wollen, wenn ich könnte – kann ich aber halt nicht. Ich muss akzeptieren, wie ich bin und immer aufs Neue damit umgehen. Du musst dir jedes Mal sagen, dass du trotzdem irgendwie gut genug bist oder trotzdem einen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten kannst und auch willst. Aber im Endeffekt ist es einfach so, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Das heißt, du musst Leistung bringen und ich habe das Gefühl, dass ich das nicht kann. Und das liegt nicht am Willen. Das ist schon eine Belastung.

M: Die Frage, die sich mir stellt, wenn ich dir jetzt zuhöre, ist dann, wie wir anders kommunizieren können? Du hast jetzt gerade die anderen in Schutz genommen, weil wir davon ausgegangen sind, dass alle im Prinzip mehr oder weniger studieren. Müssen wir nicht lernen, anders zu kommunizieren und zu denken, damit wir Menschen nicht das Gefühl geben, dass es einen “normalen Weg” gibt und diesen auch gehen müssen? Vielleicht müssen sich Personen, die immer davon ausgehen, dass alle um sie herum gleich sind oder gleiche Voraussetzungen haben, immer wieder klarmachen, dass es eben nicht so ist. Da kommen wir wieder auf Adultismus zurück. Denn Kinder werden oft ohne Unterschiede gedacht (als einheitliche Gruppe). Und Unterschiede nur entlang ‘erwachsen’ und ‘Kindsein’ gedacht. Wenn man als erwachsene Person mit einem Kind spricht, spricht man z.B. anders. Man muss sich also daran erinnern, sich nicht adultistisch zu verhalten und zu versuchen, nicht herablassend zu sprechen und nicht die ganze Zeit heraushängen zu lassen, dass ich super erwachsen bin.

Dadurch, dass ich euch jungen Menschen im Polyrama Young begegne, merke ich, dass ihr alle so krass unterschiedlich seid. Ihr habt verschiedene Persönlichkeiten und ganz unterschiedliche Themen, die euch beschäftigen und die ihr braucht. Damals hast du mir davon erzählt, dass du dann oft versuchst, dich in eine Gruppe zu integrieren.

H: Weil es nicht immer leicht ist. 

M: Als du mir das damals erzählt hast, habe ich gedacht: Okay krass. Sie lassen dich praktisch in der Gruppe dabei sein, aber du musst die Arbeit dafür leisten. Es hat sich für mich angehört, als würdest du nicht mitgedacht werden. Und als müsstest du dich mitdenken im Verhältnis zu den anderen.

H: Mhm, ich habe in Gruppen das Gefühl, dass ich einfach nichts zu erzählen habe. Ich weiß ein bisschen von verschiedenen Themen, aber nicht immer das Spezifische, um tiefer hereinzugehen. Ich bin dann eher der Zuhörer. Ich habe vor allem gemerkt, dass viele Fachbegriffe benutzen, die mir nicht geläufig sind. Dann werde ich gefragt, ob ich es verstanden habe. Manchmal lügt man – ja, ja, habe ich verstanden. Im Nachhinein merke ich, dass ich es doch nicht verstanden habe. Ich habe es nur gesagt, um der Person zu zeigen, dass ich zugehört habe. Aber ich habe nicht ganz genau verstanden, was genau gemeint war. Ich trau mich halt nicht immer, offen zu sagen, dass ich das nicht verstanden habe, weil ich nicht auf die andere Person wirken will, als ob ich dumm bin. Das ist dann schon ein belastendes Gefühl.

M: Dadurch, dass du im Polyrama-Museum arbeitest, betrittst du viele Kulturräume. Da wird auch sehr oft mit Fachbegriffen um sich herum geschmissen. Hast du da auch das Gefühl, dass du dich maskieren musst?

H: Ja, natürlich. Aber ich sage es natürlich nicht, weil ich nicht die einzige Person sein will, die etwas nicht versteht. Ich merke, wie andere aus dem Team reden und auch vieles schneller und einfacher verstehen als ich. Sie können auch mehr zu Themen sagen. Ich will einfach nicht die einzige Person sein, die nachfragt. Fragen zu stellen, ist ja nicht schlimm, aber bei mir wäre es dann tausendmal. Deswegen versuche ich so wenig wie möglich nachzufragen. Um nicht zu signalisieren, dass ich ein bisschen länger brauche. Denn nicht jeder ist geschult, mit dem Thema Lernschwäche umzugehen. Das war auch früher in der Schule so. Es gibt Leute, die die Lust verlieren oder keinen Bock darauf haben, öfter zu erklären. Ich weiß auch nicht, inwiefern der Geduldsfaden reißen könnte. Manche werden sehr empfindlich und aggressiv und sagen etwas wie, ‘Boah du checkst es gar nicht, obwohl es so einfach ist.’ 

M: Wie würdest du denn Schule gestalten, damit es für dich ideal wäre?

H: Ideal wäre, wenn kein großer Druck entsteht. In der Schule wird zum Beispiel benotet. Das war für mich immer eine Belastung. Im Matheunterricht wusste ich immer, dass ich eine schlechte Note kriege. Ich hätte mir gewünscht, dass in der Schule nicht benotet wird, weil daraus resultiert, dass man keine Fehler machen darf. 

M: Könntest du dir eine Situation vorstellen, wo du Fragen stellen könntest, ohne dass du dich davon bewertet fühlst?

H: Na ja, die Situation gibt es immer. Deswegen fühlt man sich in der Schule auch unwohl mit den Lehrer*innen.

M: Ich finde, man hört öfter von Lehrer*innen, die sich total übergriffig gegenüber Schüler*innen verhalten. Ich bin auch schon in meiner Arbeit Lehrer*innen begegnet, die echt unangebrachte Kommentare gegenüber Schüler*innen gesagt haben. Ich dachte, das hat hier überhaupt nichts zu suchen. Könntest du dir vorstellen, dass zum Beispiel sowas wie Internet und Künstliche Intelligenz (KI) ein Schutzraum sein kann? Weil du da zu deiner eigenen Zeit und zu deinen eigenen Bedingungen Fragen stellen darfst?

H: Ja, auf jeden Fall. Ich habe zum Beispiel schon ChatGPT benutzt, ein paar Fragen gestellt und da direkt die Antworten bekommen. Aber ich habe auch gemerkt, dass dort sehr viel Fachliches kommt - Wörter, die man auch nicht immer ganz versteht. Aber im großen Ganzen finde ich es besser, KI zu fragen.

M: Weil du dann nicht dieses Persönliche hast, was dann so im Raum steht? Ich finde echt krass, für was du dich alles interessierst und dass du immer sehr positiv und optimistisch an Dinge rangehst. Und außerdem finde ich krass, dass du dich selbst rannimmst und dich selbst verantwortlich machst, wenn irgendwas nicht funktioniert. Mir tut das oft leid, weil ich denke, dass du das gar nicht tun musst und solltest. Was würdest du dir denn von Menschen wie mir wünschen, damit du dich wohlfühlst?

H: Ehrlich gesagt habe ich keine Erwartungen. Ich gebe euch gar nicht die Schuld. Ich glaube, jeder Mensch ist anders aufgewachsen, zum Beispiel mit Eltern, die studiert haben oder Akademiker*innen sind. Es ist mir wichtig, dass ich lerne, damit umzugehen und mich zu akzeptieren. Ich will mir angewöhnen, dass ich mich trotz des Ganzen, was ich nicht kann und mit all den Nachteilen, nicht unterkriegen zu lassen. Es bringt ja nichts, dass man sich in meiner Anwesenheit immer irgendwie anpassen muss. Für mich ist es wirklich immer ein Kampf, wenn ich versuche, mich irgendwo zu integrieren. Früher war es bei mir so, dass ich immer Wert auf andere Menschen gelegt habe. Darauf, was sie von mir denken. Mittlerweile ist es mir scheißegal. Entweder man akzeptiert einen, so wie man ist, mit den Stärken und Schwächen, seinen Nachteilen mit dieser Behinderung. Oder man akzeptiert sie halt nicht. Und wenn es nicht so ist, dann passt es nicht. Dann hat man halt nichts miteinander zu tun.

M: Und gibt es Orte, an die du deswegen nicht gehst, weil du das Gefühl hast, dort nicht eingeladen zu sein oder nicht mitgedacht zu werden?

H: Ja. An sich will ich immer so gerne in Museen oder Kultureinrichtungen, aber ich traue mich nicht allein hinzugehen. Weil ich auch nicht dieses Umfeld habe, das sich dafür interessiert. Bei den Leuten, mit denen ich mir vorstellen könnte, dorthin zu gehen, habe ich das Gefühl, dass sie alles verstehen. Ich gehe also nicht, obwohl ich Interesse habe. Weil ich dort dann nicht alles verstehe und ich nichts davon habe. Letzte Woche war ich mit Anna und anderen Kolleg*innen in diesem Museum in Charlottenburg, in der Villa Oppenheim. Dort hat uns ein Führer erklärt, wie das alles war. Alle anderen haben was dazu gesagt, sich unterhalten und ich konnte nicht mitreden. Ich habe schon mitgekriegt, worum es geht, aber es waren so viele Begriffe und so viele Sachen auf einmal – Pam, Pam, Pam, Pam, Pam. Alles kommt in deine Richtung und du kommst nicht mit. Du hörst zu, bist aufmerksam, aber du verstehst nicht alles, obwohl dich das interessiert und du neugierig bist.

Irgendwann ist es bei mir so gekommen, dass es mich frustriert hat – unabhängig von dieser Ausstellung. Es ist eine Tatsache, dass du frustriert wirst, weil du etwas nicht geschafft hast und den Ansprüchen nicht gerecht wurdest.

M: Ja, verstehe ich.

H: Und dann kommt einfach eine Wut, einfach nur noch Hass, Wut, Hass, Frustration und du hast gar keinen Bock mehr. Es entsteht automatisch so eine Unmotivation.

M: Geht dir das auch so mit dieser Ausstellung? Hast du da keinen Bock mehr hinzugehen, weil es in diesem Moment Frust gab?

H: Natürlich gab es einen Moment von Frust. Aber tatsächlich will ich trotzdem dahin gehen, um es einfach immer wieder neu zu versuchen. Aber ich könnte niemals wie der Führer eine Gruppe leiten und sagen, worum es geht.

M: Ich bin ja Mutter und gehe auch mit meinem Kind ins Museum. Bei mir hat es extrem viel mit meiner Tagesform zu tun, ob ich eine Sprache finden kann, in der ich meinem Kind vermitteln kann, warum ich das toll finde, dahinzugehen. Oft muss ich mich auch damit zufriedengeben, dass es ihn trotzdem nicht interessiert. Auch wenn ich gedacht habe, dass ich gut performt habe, mein Interesse zu erzählen. Hast du das Gefühl, dass zum Beispiel Ausstellungen oder ähnliche Angebote bestimmte Personengruppen wie zum Beispiel Kinder ausschließen?

H: Ja klar, also bei der Ausstellung war auch Sadafs Tochter da, die um die 12 Jahre alt ist. Sie hat sich dann irgendwo hingesetzt – das ist mir aufgefallen. Bei Kindern ist es immer ein bisschen anders, weil du auf deren Ebene sein willst. Deswegen kann ich Eltern ein bisschen verstehen, wenn sie Kindern etwas erklären wollen, worauf die keine Lust haben. Kinder wollen spielen und Spaß haben. Natürlich müssen sie in die Schule, aber ein Kind muss spielen, damit es gefördert wird. Da würde es nicht passen, dass man Kinder in die Villa Oppenheim mitbringt. Die würden sich langweilen, weil da nur erklärt wird.

M: Du hast geschrieben, dass es zum Beispiel hilft, wenn man andere Methoden versucht und immer wieder andere, neue und vielleicht auch spielerische Methoden benutzt, um näher an Themen ranzukommen.

H: Wenn man es anders erklärt – das stimmt schon. Aber für mich persönlich, ich würde mich schämen, wenn ich nur auf dem Niveau eines Kindes etwas erklärt bekomme. Obwohl ich das dann besser verstehen würde und es auch eigentlich gut für mich wäre, würde ich mich einfach schämen, obwohl ich es gar nicht muss.

M: Ich war mal in einem Museum in einer Ausstellung, in der die Texte zu den einzelnen Teilen in der Ausstellung in zwei verschiedenen Formen geschrieben waren: einmal hochwissenschaftlich und einmal in einfacher Sprache. Und ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe sie super oft in einfacher Sprache gelesen, weil meine Aufmerksamkeitsspanne zu dem Zeitpunkt dazu passend war. Die einfache Sprache war für mich leichter zu verarbeiten. Ich habe dann gedacht, es wäre viel cooler, wenn es das immer gäbe. Denn dann könnte ich mich entscheiden, in welcher Form ich sie lesen möchte. Ich hatte auch das Gefühl, dass keiner sehen konnte, ob ich jetzt die hochwissenschaftlichen Texte oder die in einfacher Sprache lese.

H: Ja, aber das kannst du zum Beispiel nicht in Schulen machen, weil da immer ein Lehrer ist, der dir das Thema erklärt. Entweder du kommst mit oder du kommst nicht mit. In vielen Schulen in Berlin oder generell in Deutschland wird ja nicht auf den Einzelnen eingegangen. Du kannst als Lehrer*in nicht jeder einzelnen Person und mit verschiedenen Methoden erklären, damit das alle verstehen, das kostet Zeit. Deswegen erklärst du es als Lehrer*in so, wie es für dich einfach ist oder wie du es im Studium gelernt hast. Und bei Menschen wie mir kommt natürlich nichts an.

M: Ja, wenn wir zum Beispiel zusammenarbeiten, habt ihr unterschiedliche Bedürfnisse und unterschiedliche Dinge, die euch interessieren. Wir erarbeiten gemeinsam ein Thema, mit dem wir uns dann beschäftigen. Ich glaube, meine Aufgabe ist dann, euch verschiedene Sachen vorzuschlagen. Es wird Dinge geben, die dich zum Beispiel weniger interessieren als andere und es wird Dinge geben, die für dich zugänglicher sind als für eine andere Person, weil du dich mehr dafür interessierst. So, dass am Ende jeder in irgendeiner Form vorkommt. Wenn wir präsentieren, was wir gemacht haben, dann werdet ihr unterschiedliche Formen gewählt haben.

H: Aber Interesse heißt ja nicht immer, dass man das versteht. Das muss man sich immer merken. Ein kurioses Beispiel: Ich habe mich wirklich für Kolonialismus interessiert, aber ich habe es nicht ganz verstanden. [Thema der erwähnten Ausstellung in der Villa Oppenheim: “Solidarisiert euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin”, Anm. D. Redaktion] Bis jetzt nicht. Ich habe ein bisschen mitbekommen, worum es bei Imperialismus, Kolonialismus und diesen ganzen Ismus-Begriffen geht, aber auch nicht so richtig. Deswegen habe ich mir gedacht: Okay, jetzt überlege ich mir mal eine Alternative. Ich habe YouTube angemacht und dann diesen Begriff eingegeben und es mir einfach erklären lassen. So habe ich das ein bisschen besser verstanden. Aber das bezieht sich jetzt nur auf YouTube und Internet, was ja nicht wie draußen in der Welt ist. Du kannst ja nicht auf der Arbeit – sagen wir mal, du bist jetzt Bauarbeiter – YouTube gucken oder mal kurz dein Handy anmachen, um zu gucken, wie ich diese Schraube mache. Du musst es irgendwie selbst können oder die Person verstehen, die dich anleitet. Du kannst nicht immer dein Handy oder Laptop anmachen. Ich kann auch nicht in der Schule das Handy rausholen und auf YouTube schauen, wenn ich den Lehrer nicht verstehe. Das wird kein*e Lehrer*in zulassen, allein schon, weil Handys verboten sind. Es wäre geil, wenn das funktionieren würde, aber die Welt funktioniert so leider nicht.

M: Was ich da heraushöre, ist, dass es verschiedene Orte und Möglichkeiten des Lernens gibt. Und dass eben manchmal die Räume, die offiziell die Lernräume sind, gar nicht so richtig funktionieren oder nicht für alle die richtigen sind.

H: Es ist einfach so, dass jede*r Schüler*in in einer Klasse von 30 Personen andere Bedürfnisse und ein eigenes Tempo hat. Alle sind so unterschiedlich. Der eine versteht es beim ersten Mal, der andere beim zweiten Mal oder eben beim tausendsten Mal. Da kannst du kein Gleichmaß finden.

M: Ja, ich habe das Gefühl, das ist wie unterschiedliche Sprachen zu sprechen. Als müsste man mit jedem Menschen eine eigene Form von Sprache entwickeln, um der Person auf eine Art gerecht zu werden. Als wir uns überlegt haben, für diesen Beitrag etwas zu machen, hast du ja auch beschrieben, dass es Situationen gibt, wo du erlebt hast, dass mit dir geredet worden ist wie mit einem Kind und dass du das als respektlos empfunden hast.

H: Ja, so habe ich es empfunden. Natürlich will man quasi als Erwachsener gesehen werden und auch ernst genommen werden. Wenn jemand mit dir mit wie mit einem Kind redet, dann fühlt sich das beschämend an.

M: Aber es ist doch krass, dass man dann sofort ein Gefühl von Scham hat. Aus Erwachsenenperspektive wird Kindheit ja eigentlich immer als so unbeschwert und positiv verstanden. Wird man aber selbst wie ein Kind behandelt, wird das mit Scham behaftet und man fühlt sich weniger geschätzt oder respektiert. Die Frage, die sich dann stellt: Wie wünscht man sich gerade als erwachsenwerdender Mensch, behandelt zu werden?

H: Naja, wie jeder andere auch mit Respekt. Und dass man ein Anliegen ernst nimmt, das ist immer wichtig. Dass man einem zuhört. Gerade das passiert manchmal nicht.  Selbst wenn du erwachsen bist, wird man von manchen Menschen nicht ernst genommen, es wird sich respektlos verhalten, eine Grenze überschritten. Die Leute oder die Gesellschaft sollten mehr Empathie haben, wenn es um Themen wie Adultismus geht und lernen, dass man immer Rücksicht und Empathie zeigen sollte. Aber ich kann auch irgendwo verstehen, dass man nicht immer diese Kraft hat, darin zu investieren.

M: Glaubst du, dass nicht gerade in Räumen wie Bildungsräume, also wo wir als Menschen und als Gesellschaft Möglichkeiten finden sollten zu lernen - wir haben jetzt von Schule, Museen, Theater gesprochen - ein Übermaß an Empathie geben und auch gebildet werden sollte?

H: Ist aber leider nicht so. Empathie fehlt und ich glaube, dass manche Menschen einfach keine Empathie haben. Mir ist schon bewusst, dass Leute, die nicht so viel Empathie haben, denken, es gibt immer Menschen, denen es schlimmer geht.

M: Ja, wir haben darüber gesprochen, dass es auch ok ist, dass es immer Menschen gibt, denen es schlimmer geht. Aber es ist auch ok, wütend zu sein, dass man sich gerade schlecht fühlt oder dass man das Gefühl hat, dass man nicht gut behandelt wird oder es einem nicht gut geht.

H: Ja, obwohl man weiß, dass man Privilegien hat.

M: Und das ist auch das Ding mit Diskriminierung: Dass man manchmal Diskriminierung an sich rannimmt und so verinnerlicht, dass man sich plötzlich selbst diskriminiert. Zu sich selbst sagt, ‘ich bin klein und deswegen ist es okay, dass ich wie ein kleiner Mensch behandelt werde’. Und ja, es gibt ja Menschen, die noch schlechter behandelt werden. Es ist klar, natürlich gibt es immer Menschen, denen es schlimmer geht. Viele haben Essen, einen Wohnraum, sind gesund. Und trotzdem gibt es Dinge, die ungerecht sind und die nicht fair sind. Ich finde, dafür muss es Wörter geben. Klar kannst du immer sagen, dass jemand noch schlechter behandelt wird oder, dass etwas schon immer so war. Gerade im Kontext von Adultismus wird ja oft gesagt, dass jüngere Menschen schon immer schlechter von älteren Menschen behandelt worden sind. Und wiederum, dass alte Menschen schlecht behandelt werden, was Ageismus bedeutet. Wir wollen aber darüber reden, was man besser machen könnte. Stattdessen tun viele so, als gäbe es einen Kuchen, der zu verteilen ist und als ob dann einer immer weniger kriegt, bloß weil ein anderer mehr kriegt. Ich glaube, es geht nicht darum, dass man irgendeine Sache schlechter macht, damit man eine andere Sache besser macht, sondern darum, wie man es insgesamt besser machen könnte.

H: Das stimmt. Ich finde, man sollte ein Gleichgewicht finden.

M: Ich finde deine Frage nach mehr Empathie total berechtigt: Also wie können wir empathischer miteinander umgehen und uns öfter in die Lage vom jeweils anderen versetzen?

H: Das passiert zu wenig.

M: Du spielst doch gerne Theater. Ich weiß noch, dass mir als Jugendliche das Theater eine Möglichkeit gab, zu fühlen, wie jemand anderes ist. Mir das vorzustellen. Das fand ich manchmal sehr befreiend. Und im besten Fall eine Möglichkeit, um empathischer zu sein, einfach nur durch die Vorstellung.

H: Quasi in einer Rolle zu sein. Ja, klar. Aber ich glaube auch, dass Menschen gerade viel mit ihrem eigenen Kram zu tun haben. Wir leben in einer Zeit mit viel Gewalt und Hass. Da ist man lieber vorsichtig damit, auf wen man sich einlässt. Deswegen entsteht auch weniger Empathie. Was ich an sich jetzt nicht so schlimm finde, wenn ein Mensch keine Empathie hat. Eben weil er eher so vorsichtig ist, wem er vertraut. Nur die Frage ist, ob es moralisch richtig ist. Das kann ich nicht beantworten. Jeder hat seinen eigenen moralischen Kompass.

M: Vielleicht kommst du da auch wieder an diesen Punkt: Du hast vorhin gesagt, es wäre gut gewesen, wenn halt nicht immer alles bewertet worden wäre, gerade im Unterricht.

H: Ja genau richtig. Aber wir leben halt in einer Leistungsgesellschaft.

M: Aber wenn wir in einer Leistungsgesellschaft leben, warum leisten wir so wenig im Bereich Empathie? Das gilt ja für alle, mit denen wir in Kontakt treten und das kann echt hart sein, weil man manchmal ja auch sauer auf jemanden ist. Aber ich glaube, grundsätzlich wäre es schön, wenn wir uns allen auf eine Art zärtlicher begegnen würden und dadurch versuchen, Empathie zu generieren. 

H: Ja, wenn das funktioniert!

Das Transkript wurde überarbeitet und für ein vereinfachteres Lesen angepasst. 

Hussein Kalakech (er/sein) ist 19 Jahre alt und macht 2024 ein freiwilliges soziales Jahr im Polyrama – Museum für Lebensgeschichten. Ihm ist es wichtig, dass alle Menschen, die eine Benachteiligung erfahren, die Möglichkeit bekommen, gleichberechtigt und selbst zu entscheiden, wie sie bei Veranstaltungen und in Gruppen dabei sein wollen, ohne sich unwohl zu fühlen. Hussein hat eine Lernbehinderung und glaubt, man kann von ihm lernen, sich nicht entmutigen zu lassen.

Das Polyrama Museum für Lebensgeschichten ist ein Museum, das 2021 gegründet wurde. Es sammelt Berliner Lebensgeschichten zu wichtigen Lebensthemen. Dafür sprechen wir mit sehr verschiedenen Menschen, die uns in Interviews persönliche Einblicke in ihre Lebenserfahrungen geben. Polyrama Young ist ein Projekt des Museums, in dem junge Menschen selbst zu Museumsmacher*innen werden, eigene Ausstellungen kuratieren und eigens ausgewählte Themen behandeln. Zur Website

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