Anti-Anti-Anti-Anti-Anti-Antisemitismus

Ein Text von Debora Antmann über Antisemtismus außerhalb politischer Bildungsarbeit

In der Theorie

Es gibt kaum Übung in der niedrigschwelligen interdisziplinären Aufklärungsarbeit über Antisemitismus außerhalb der politischen Bildungsarbeit. Und Praktiker*innen werden schnell feststellen warum das so ist: Denn dem theoretischen Gerüst rund um die Auseinandersetzung mit Antisemitismus fehlt eine sprachliche Dynamik für die alltägliche Anwendung. Gängige Antisemitismus-Theorie ist fürs Papier, für die abstrakte Analyse eines gesellschaftlichen Phänomens und nicht zur Anwendung in der Praxis, geschweige denn zur Erleichterung jüdischer Lebensrealitäten entwickelt worden.

Vorsicht nicht verheddern!

Ein großer Teil pädagogischer Arbeit sind die Wirklichkeiten und Erfahrungsräume, die wir mit Sprache schaffen. Und gerade in den Wirklichkeiten, die wir in Bezug auf die Lebensrealitäten von Jüd*innen vermitteln wollen, stellt uns das vor ein Problem: Die Welt der Antisemitismusforschung ist ein Universum der Zungenbrecher.

Ein Beispiel: Wie nennen wir Engagement gegen rassistische Strukturen? Richtig: Antirassismus. Wie nennen wir den Kampf gegen menschenverachtende Ideologien? Richtig: Antifaschismus. Wie nennen wir die Position gegen die Diskriminierung von Jüd*innen? Antisemitismus? Ja eben nicht. Anti-Antisemitismus. Durch die Verneinung im Wort selbst, wird die Gegenposition zur doppelten Verneinung, was häufig genug dazu führt, dass Menschen im Eifer des Gefechts ein „Anti" vergessen und aus Versehen „antisemitische Arbeit“ machen wollen. Oder ist die Gegenposition zu Antisemitismus Semitismus? Das wäre wohl reichlich problematisch. Jungen Menschen eine Perspektive zu anti-antisemitischer Haltung zu eröffnen, scheitert schon oft an der sprachlichen Sperrigkeit und Komplexität des Themas. Es lohnt sich immer mal wieder in den Sozialen Medien zu schauen, wie Jüd*innen komplexe Sachverhalte verdaubar und lebensnah runterbrechen und ihre Lebensrealität jenseits von nur fürs Papier geschriebener Theoriegebilde verbalisieren. Beispiele sind „Jüdisch und Intersektional“, Queer Jewish Futures,  Nui Arendt, und Emotional Labor Queen auf Instagram und Leah Carola Czollek und Debora Antmann auf Twitter.

Bewusstsein für die Lücken

Sprachlich sind aber nicht nur die unhandlichen Gebilde, die existieren, ein Problem, sondern auch jene Begriffe die gänzlich fehlen, eine Herausforderung.

Ein Beispiel für das gänzliche Fehlen von Vokabular ist, dass wir bis heute für eine der weitreichendsten antisemitischen Eskalationen in der deutschen Geschichte keinen Begriff haben: den 9. November 1938. „Novemberpogrom“, „Pogromnacht“, „Reichspogromnacht“, „Kristallnacht“, „Reichskristallnacht“ werden aus unterschiedlichen Gründen von Jüd*innen abgelehnt und als problematisch empfunden.

Auch der Umstand, dass es für die Realität von 90% aller Jüd*innen bis heute keinen angemessenen Begriff gibt und wir uns nach wie vor mit dem Wort „Kontingentflüchlinge“ in Anführungszeichen behelfen ist symptomatisch für den begrifflichen Notstand, mit dem wir jonglieren.

Die sprachliche Beschaffenheit der Antisemitismus-Theorie und die Unsprechbarkeit von antisemitischen Phänomenen wird auf diese Weise zum direkten Widerspruch bildungspolitischer Ansprüche, niedrigschwellige pädagogische Aufklärungsangebote über und gegen Antisemitismus zu schaffen.

Es ist wichtig diese Lücken und Unzulänglichkeiten zu benennen und ein Bewusstsein dafür in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Es erleichtert ihnen ungemein zu verstehen, in welcher sprachlichen Realität sie sich in Bezug auf Antisemitismus befinden, statt sich darin hilf- und orientierungslos zu fühlen.

Wen zeigen wir?

Wenn wir also über Sprache kaum niedrigschwellige Angebote schaffen können, wäre es eine Möglichkeit über konkrete Darstellung und Bildsprache jüdische Wirklichkeit und Antisemitismus für junge Menschen erfahrbar und nachvollziehbar zu portraitieren? Wie müsste das aussehen?

Darstellungen sind schon historisch bedingt eine große Herausforderung. Wir alle kennen die antisemitischen Karikaturen, die Juden-Sau-Darstellungen an Kirchen, die „Rasse-Beschreibungen“ des Nationalsozialismus. Aber es muss nicht immer so offensichtlich und an antisemitischen Ideen von vermeintlich jüdischen Körpermerkmalen stattfinden, damit die Darstellung von Jüd*innen problematisch wird.

Unsichtbarkeit sichtbar machen statt Sichtbarkeit konstruieren

In der Realität sind Jüd*innen unsichtbar. Eine Ausnahme bilden nur jene, die aus religiösen, politischen, kulturellen oder familiären Gründen jüdische Symbole und Kennzeichen tragen. Jüd*innen bildlich darzustellen beinhaltet also immer die Gefahr Stereotype zu transportieren und jüdische Realität auf religiöse Sichtbarkeit zu verengen: Es ist eine Umkehr jüdischer Realität von der Unsichtbarkeit und den diskriminatorischen Erfahrungen, die damit einhergehen, in eine vermeintliche Sichtbarkeit zur besseren Veranschaulichung und damit Verfremdung der eigentlichen Umstände. Das Bewusstsein, dass die Darstellung von Jüd*innen anhand religiöser Symbole, wie Kippa, Pejes, Hut etc. hochgradig problematisch ist, fehlt im pädagogischen Diskurs leider häufig. Denn zum einen sorgt diese Form der Darstellung für eine generisch maskuline Verkörperung des Jüdischen, zum anderen wird jüdisch zur Anschaulichkeit auf eine religiöse und zudem orthodoxe Realität verengt und so exotisiert. Die meisten Jüd*innen in Deutschland sind aber weder religiös noch sichtbar, kommen aber im Bewusstsein und in der Wissensvermittlung nicht vor. Wichtig ist es hier die Unsichtbarkeit zu thematisieren und sichtbar zu machen: Von dem Leitmotiv „Ich habe noch nie einen Juden gesehen“ wegzukommen und stattdessen zu dem einem Verständnis, dass wir nicht wissen, wer jüdisch ist, und das als Teil jüdischer Realität zu verstehen.

Lebendige Bilder, statt tote Geschichten

Die Alternative zu der exotisierenden Darstellung sind häufig historische Fotos im Kontext der Shoah. Hier werden Jüd*innen zu historischen Objekten, die ebenfalls nichts mit der eigenen unmittelbaren Lebenswelt zu tun haben. Auch hier findet über die zeitlich distanzierte Darstellung jüdischer Realität eine Verfremdung statt. Auf diese Weise werden Jüd*innen und Antisemitismus zu einem historischen Relikt und nicht Teil unseres aktuellen Handlungsspielraums und der gegenwertigen gesellschaftlichen Verantwortung. Nur weil Jüd*innen unsichtbar sind, heißt es nicht, dass sie nicht existent sind. Nur weil wir sie nicht sehen, heißt es nicht, dass es nicht unsere Aufgabe ist Antisemitismus zu sehen und ernst zu nehmen. Das zu verstehen ist viel einfacher, wenn wir Jüd*innen und Antisemitismus in der unmittelbaren Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen verorten. Das bedeutet weder historische Bilder noch der Rabbiner von der Gemeinde werden eine lebensweltliche Bindung schaffen. Gerade deswegen ist es wichtig den Einstieg über Alltagserfahrungen mit Strukturbezug zu suchen. Und zwar aus explizit jüdischer Perspektive aufbereitet und berichtet. Es reicht dabei nicht, beliebige Jüd*innen in einen pädagogischen Kontext zu holen, wie es bisher gerne gemacht wird. Sondern es ist wichtig, erfahrene Expert*innen zum Thema in die pädagogische Interaktion zu bringen, um Tokenism zu vermeiden und jungen Menschen fundiertes und nicht nur anekdotisches Erfahrungswissen näherzubringen und mit nachhaltigem Werkzeug auszustatten.

Eskalation ist nur die Spitze des Eisbergs

Der Alltagsbezug ist auch deswegen elementar, weil wir im Bezug auf Antisemitismus dazu neigen nur die letzte Eskalation zu betrachten: die brennende Synagoge, den angegriffenen Juden. Es ist aber unabdingbar, auch ein Bewusstsein für antisemitische Mikroaggressionen und Alltagsantisemitismus zu schaffen, um nachhaltig und präventiv gegen die letzten Stufen der Eskalation wirken zu können. Dies ist auch deshalb wichtig, um einerseits junge Jüd*innen mit Selbstbewusstsein gegenüber ihrer eigenen Realität und Erfahrungen ausrüsten und es ihnen zu ermöglichen Bedarfe, Bedürfnisse und Grenzüberschreitungen zu formulieren und gegebenenfalls dafür bzw. dagegen einzustehen. Und andererseits Nicht-Jüd*innen mit Bewusstsein, Wissen und Sensibilität für das eigene Handeln und gesellschaftliche Bilder auszustatten um verantwortungsvoll damit umgehen zu können.

Auf die Perspektive achten!

Der letzte Punkt scheint fast banal und ist trotzdem der, an dem es am häufigsten scheitert:

Über Antisemitismus sprechen bedeutet nicht, dass jüdische Perspektiven, Bedarfe und Belange sichtbar gemacht und Jüd*innen gestärkt werden! Über die Shoah zu sprechen, ist in der Regel ein Sprechen über deutsche, nicht primär über jüdische Geschichte. Über Antisemitismus zu sprechen, bedeutet nichtjüdische Menschen und deren Handeln in den Mittelpunkt zu rücken. Das kann und darf aber nicht die einzige Auseinandersetzung bleiben. Pädagogische Aufgabe muss auch sein, jüdische Perspektiven zu stärken. Das bedeutet unter anderem auch nicht davon auszugehen, dass keine im Raum sind, ohne dass ein Outing erforderlich ist. Es sollte also niemals so gesprochen werden als seien keine im Raum, sondern immer mit dem Bewusstsein, dass welche anwesend sein könnten. Empowerment-Angebote und am besten Peer-To-Peer-Angebote für Jüd*innen schaffen, damit diese gestärkt rausgehen, während die anderen von der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und jüdischen Perspektiven profitieren. Jüdische Perspektiven darzustellen, muss auch bedeuten eine Vielfalt an jüdischen Stimmen, Jüdischkeit und für Jüd*innen an Identifikationsspielraum sichtbar zu machen. Das heißt Aschkenormativität[1] und Kulturalisierungen zu vermeiden.

Jüdische Stimmen einbringen

Es gibt keine einfachen Handlungsanweisungen, wenn es um eine niedrigschwellige Auseinandersetzung mit Antisemitismus in pädagogischen Kontexten geht. Wichtig ist jedoch, existierende Probleme nicht zu verhärten, indem aus Selbstverständlichkeit auf das Altbekannte zurückgegriffen wird und gleichzeitig nicht vor Verunsicherung und dem Gefühl der Überforderung die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu meiden. In der jüdischen Pädagogik gilt es als gefährlich zu glauben, man hätte eine eindeutige Antwort auf irgendetwas. Stattdessen setzten wir auf Dialog und Austausch. Und es gibt auch ein paar ganz konkrete Dinge, mit denen man erstmal anfangen könnte, um etwas in der zur Hand zu haben: Zum Beispiel junge Menschen mit der Arbeit von lebenden Jüd*innen vertraut machen. Sie ihnen jedoch nicht nur als Jüd*innen, sondern auch mit ihrer Arbeit, ihrem Engagement, ihrer Botschaft vorzustellen. Schulprojekte, in denen ein Rabbi eingeladen wird, sind deswegen schwierig, weil der Rabbi nur in seiner Funktion als „Jude zum Anschauen“ da ist, Bücher wie „Anne Frank“ lassen Jüd*innnen wie historische (und tote) Relikte wirken. (Kurz-)Filme wie „Masel Tov Cocktail“ dagegen zeigen eine junge kritische Perspektive, in der junge Menschen ihren Alltag wiedererkennen. Mit Texten, Kolumnen, Radiobeträgen, Filmausschnitten von Aktivist*innen können aktuelle Debatten aufgegriffen und diskutiert werden. Ich erinnere mich an „Kulturfrühstücke“ bei uns im Jugendclub und dass von mir erwartet wurde, dass ich Hummus mitbringe. Dabei hat Hummus nichts mit der jüdischen Kultur zu tun, aus der ich komme (von der Problematik der Kulturalisierung, die hinter der Idee „Kulturfrühstück“ steckt, mal ganz abgesehen). Gewürzgurken und Kartoffelpuffer hätten in meinem jüdischen Fall viel mehr Sinn gemacht, wäre den Pädagog*innen wahrscheinlich aber nicht „jüdisch genug“ vorgekommen. Es ist wichtig im Kontakt mit jüdischen Kindern und Jugendlichen zu reflektieren, was unsere Erwartungen an sie und Bilder von ihnen sind und sie aus der Verantwortung zu entlassen, diese zu erfüllen. Habe ich schonmal darüber nachgedacht, dass es arme Jüd*innen gibt (tatsächlich sind Jüd*innen in Deutschland überproportional häufig von Altersarmut betroffen)? Und als Folge: Welche Annahmen habe ich unbewusst von den Ressourcen eines jüdischen Kindes? Als Pädagog*innen ist es wichtig, sich zu fragen: Werte ich die Leistungen eines jüdischen Kindes wirklich als SEINE oder glaube ich auch ein bisschen, dass es eh irgendwie besonders klug oder talentiert ist oder glaube in seinem Zuhause gäbe es mehr stimulierendes Potential, weil es jüdisch ist und wertschätze deswegen seine Erfolge weniger? Unser erster Impuls wäre immer zu sagen: Niemals tue ich sowas. Wichtig ist, es nicht bei diesem ersten Impuls zu lassen und dort mit der Reflexion aufzuhören, sondern immer wieder mit dieser Frage kritisch innezuhalten.

Vielleicht macht es auch Sinn Feiern nicht auf Freitagabende zu legen oder ab und zu mal den Kalender im Blick zu haben, auch wenn ich glaube kein jüdisches Kind zu betreuen. Denn nicht jede jüdische Familie wird sich outen wollen. Und selbst, wenn diese Familie nicht religiös ist, wären wichtige Termine an Rosch Ha’Schana oder Jom Kippur eventuell genauso misslich, wie für andere ein Elternabend an Weihnachten.  Neben diesen ganz konkreten Tipps gilt es aber auch ganz allgemein. Deswegen ist mein Rat letztendlich immer der gleiche: sich jüdische Perspektiven mit Fachexpertise in den pädagogischen Dialog zu holen. Das macht Spaß, ist fruchtbar und alle lernen was dazu. Auch die jüdischen Expert*innen.

 

Debora Antmann ist eine weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin, politische Bildnerin, semi-aktive Körperkünstlerin und verhinderte Superheldin. Sie arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Jüdischen Museum Berlin. Seit 2017 schreibt sie als Online-Kolumnistin für das Missy Magazine und ist als politische Bildnerin mit Schwerpunkt Feminismus und Judentum in der Bundesrepublik unterwegs.

https://dddebs.com/


[1] Aschkenormativität beschreibt die eurozentristische Darstellung von Jüd*innen und jüdischer Kultur. Soll „das Jüdische“ dargestellt werden, geschieht das meist anhand der stereotypischen Verwendung aschkenasischer Kultur und aschkenasischer Jüd*innen. Es gibt nicht das Judentum, sondern verschiedene Kulturtraditionen, die mit unterschiedlichen geo-historischen Zugehörigkeiten und Einflüssen einhergehen. Aschkenasim werden Jüd*innen, deren kulturelles Erbe aus Mittel-, Nord- und Osteuropa stammt, genannt. Sephardim sind die Jüd*innen, die bis zu ihrer Vertreibung auf der iberischen Halbinsel gelebt haben sowie deren Nachfahren. Mizrachim beschreibt meist Jüd*innen, deren jüdisch-kulturelles Erbe aus Vorderasien und Teilen Afrikas stammt. Beta Israel sind äthiopische Jüd*innen und Italkim sind Jüd*innen, deren Kulturtradition sich in der Isolation Italiens entwickelt hat.