Konsens con leche

Ein Essay über Konsens im Alltag. SchwarzRund erzählt, wie der individuelle, kulturelle und gesellschaftliche Kontext das Verständnis von Konsens beeinflusst.

Autor*in: SchwarzRund

Café con leche serviert mit Churros, beides Spezialitäten im spanischen und lateinamerikanischen Raum (Foto: Jun/ Flickr)
Café con leche (Kaffee mit Milch), auf den der Titel dieses Beitrags anspielt, serviert mit Churros; beides sind Spezialitäten im spanischen und lateinamerikanischen Raum (Foto: Jun/ Flickr)

Wie nehmen wir Konsens, also die Zustimmung aller Parteien oder Personen zu einer Handlung, Situation, Berührung oder einem Gespräch, wahr und wie wird Konsens ausgehandelt?

Ich bin noch immer im Halbschlaf, doch merke, wie der Bulli auf einem Parkplatz Halt macht. Es ruckelt. Wir wissen nie so genau, ob er nochmal starten wird. In der Sierra de Guadarrama war die kälteste Nacht der Reise vorbeigegangen, eingemummelt in meinen Kinderschlafsack blinzelt die Sonne mich wach.

"Es ist um sieben," sagt sie ruhig, die Strapazen der Reisen bedeuten, dass sie bei sich ist. Bullifahren, den Bulli in Gang bringen, verrauchte Frühstücksecken für Trucker. Über dem Flanellhemd trägt sie eine offene, unförmige, dicke Jacke, darunter keinen BH, stattdessen ein enges gerippte Unterhemd, verstellt ihre tiefe Stimme nicht. Spanisch statt Deutsch, sie versteht sich mit all den Männern in der Kneipe. Wenn sie lacht, steht ihr schiefer Zahn hervor, der Bart sprießt darüber und sie trinkt starken Café ohne Milch und Zucker, das kleine Glas zwischen ihren groben, vom Nikotin gelben Fingern. Ich spreche wenig Spanisch, aber bestelle mir erfolgreich einen Cola Cao, immer Cola Cao. Das malzige Schokoladengetränk ist zwar für Kinder gedacht, aber ich entdecke immer mindestens einen bärtigen LKW-Fahrer, der es mir zur Frühstückszeit gleichtut. Das Pulver wird in kleinen Portionsbeuteln verkauft, ich nehme immer nur die Hälfte, verkauf die andere für ein paar Pesos an den LKW-Fahrer, der das Getränk stärker trinkt. Hungrig starre ich auf sein Bocadillo, er schiebt es mir zu, ich bedanke mich kopfschüttelnd. In meinem vierten Lebensjahr als Vegetarier*in hatte ich noch nicht das Werkzeug, nach dem zu fragen, was ich will.

"Un Bocadillo por favor, ähm, sólo queso," der Besitzer schaut mich ratlos an: "¿Qué? ¿No jamón?“  "Nein, kein Schinken, nein, auch keine Salami." Ich werde müde. Meine Mutter, selbst ein Schinkensandwich kauend, ruft in fließendem Spanisch durch den Laden: “Die Kleine isst kein Fleisch, lass sie in Ruhe, du hast sie verstanden: nur Käse!“

Schulterzuckend belegt er das Brot für mich: "¿Tomate?" Ich schüttele den Kopf, nachdem es gegrillt ist. "¿Kétchup?" Jetzt nicke ich begeistert, der Trucker zieht die Augenbraue hoch. "Sí, gracias!" Er ist zufrieden, der Barmann auch.

Geschlechterrollen, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und Konsens

Als ich Jahre später in Berlin anfing, mich mit Konsens zu beschäftigen, merkte ich, wie verstrickt es ist mit Geschlechterrollen und sozialem Verhalten, dass wir durch unsere Eltern mitbekommen. Und wie immer war ich extrem verwirrt. Als Geschlechterforscher*in bin ich mir aufs Schmerzlichste bewusst, dass Geschlecht nur von Menschen ausgedacht, also ein soziales Konstrukt ist. Doch das bedeutet nicht, dass es nicht unsere Leben prägt. Genauso wie race, Behinderung und Klasse Konstrukte sind und trotzdem in unsere Identitäten eingewoben werden.

In Gesprächen über Konsens geht es oft verallgemeinernd darum, wie Menschen Zugänge zu einvernehmlichen Erfahrungen machen, es wird kaum weiter differenziert nach ihren Erfahrungen durch Rassismus beispielsweise. 

Für mich ist Konsens allerdings ein Lernmoment, den wir alle unterschiedlich aufgrund unserer ganz individuellen Vorstellungen und Erfahrungen erleben.

So habe ich vor allem durch meine weiße Mutter erlernt, meine Bedürfnisse zu äußern. Nicht ihr gegenüber, aber gegenüber dem Rest der Welt. Sie forderte mit der Selbstverständlichkeit eines weißen cis-Mannes ein, was ihr zustand. Dafür bin ich ihr mehr als dankbar, doch weiß ich auch um die vielen Situationen, in denen ihre Ausbrüche jene erwischten, die historisch und gesellschaftlich anhand von race, Klasse und Behinderungen ihr gegenüber deprivilegiert waren und sind.

Ich fühlte mich gerüstet für die Ausbildung in einem handwerklichen Betrieb, 34 Azubis, davon drei keine cis-Männer. Doch so gut ich auch darin war zu pokern, mich durchzusetzen und Härte zu zeigen, so sehr fehlte mir das Handwerkszeug, mit den anderen Frauen in Kontakt zu treten - dies hatte ich schlichtweg nicht von ihr gelernt. Sie brachte mir bei, wie Männer Grenzen aushandeln, doch nie, wie dies in Frauenräumen geschieht.

Konsens einzufordern, wenn die gesellschaftliche, rassistische Norm fand, dass das ungefragte Begrapschen meines Schwarzen Körpers okay sei, konnte mir kein weißer Feminismus beibringen. Konsens ist nie einfach. Wie wir Aushandlungen erleben hängt davon ab, wie wir in der Gesellschaft gehört werden. Wenn die Unversehrtheit deines Körpers in der Gesellschaft keinen Wert zugestanden bekommt, ist es besonders schwer, Grenzüberschreitungen als etwas, das nicht okay ist, zu begreifen. Das Problem ist: erst wenn du begreifst und benennen kannst, dass etwas nicht okay war, kannst du dagegen laut werden.

Sexueller Konsens, sozialer Konsens ODER Konsens mit dir selbst

Konsens wird oft anhand von sexuellen Erfahrungen, sozialen Situationen oder anhand der Frage, wie wir uns selbst konsensuell erleben können, debattiert. Diese drei Situationen lassen sich nicht getrennt betrachten. Im Konsens mit mir selbst lerne ich, meinem Körper zuzuhören. In sozialen Situationen meine und andere Bedürfnisse ernst zu nehmen. All das lässt sich in nicht-sexuellen sozialen Situationen sehr viel einfacher erlernen und aushandeln wie in sexuellen Momenten.

Mein zehnjähriges Ich, so glücklich wie nur möglich mit ein paar mehr Pesos, einem Cola Cao und einem in Ketchup getränktem Käsesandwich, hatte eine Lektion mitgenommen, die mir bis heute im Leben hilft. Denn dass der Barmann sich so schwertat, mir ein Sandwich zu machen, welches meinen politischen Ansprüchen genügte, lag nicht an dessen Ignoranz.

Ich ziehe mich am Griff hoch in den Bulli, meine Mutter strahlt unter ihrem kurzen Haarschnitt. "Du weißt, dass er das nicht böse meinte, oder?", fragt sie und ich verstehe, was gerade geschehen ist. "Ja," sage ich und bleibe hier eine Erklärung schuldig, doch sie ergänzt: "Für ihn ist Schinken und Salami das, was er gut macht in seinem Job. Sein Job ist, dass du glücklich bist. Dafür musst du ihm sagen, dass seine Vorstellung von Glücklichsein nicht deine ist." Ich nicke, versuche es mir zu merken für die vielen ermüdenden Momente, die mir bevorstehen: Spanische und lateinamerikanische Freunde meiner Mutter werden uns in den nächsten Wochen bekochen und ich werde in vielen Küchen Spaniens erklären müssen, was ich nicht essen möchte.

In queeren Communities sehnen wir uns nach Regeln, verlässlichen Übereinkünften, denen dann alle auf magische Weise folgen. Wir haben keine interne Polizei, aber Begriffe, die dieselbe Funktion erfüllen. "Die ist doch problematisch?!", wird oft gesagt. Danach nicken alle, keine*r fragt nach dem Kontext. In "Unapologetic" fragt Charlene Carruthers danach, wie wir jenen solidarisch zur Seite stehen können, die Gewalt erfahren haben. Gemeinsam Konsens in die alltägliche Praxis integrieren können und zugleich nicht in weiße Muster zu verfallen, die auf ein stetiges Sezieren und Sortieren in Gut und Schlecht ausgerichtet sind.

Kontext statt Konsens

Mein kultureller Hintergrund ist geprägt durch Umarmungen und Besos meiner dominikanischen Familie. Aber auch durch die deutsche rassistische Familie, die ihre Autos mit mehr Nachsicht behandelten als dieses neue Schwarze Kind, das sie nicht verstanden. Meine Perspektive auf Konsens ist widersprüchlich, meine Eltern brachten mir bei, wie wichtig es ist, für mich einzustehen. Das "Bienchen und Blümchen"-Gespräch bestand vor allem daraus, mir zu erklären, dass sich Sex niemals doof anfühlen sollte. Zugleich haben sie beide niemals gelernt, die Grenzen anderer Menschen im Alltag zu beachten. Die Trauma meiner Eltern die durch von Transfeindlichkeit und Diktatur entstanden, kumulierten darin, dass ich erst jetzt langsam verstehe, dass ich Grenzen haben darf. Mein kultureller Hintergrund ist auch, dass ich vor Norddeutschland geflohen bin, der zwischenmenschlichen Kälte dort und der starren Abwertung des Gegenübers.

Wie ist deine Perspektive auf Konsens? Ist es für dich cool, nach einer Umarmung gefragt zu werden, oder möchtest du einfach den Stress der Hinfahrt zum Treffen vergessen, ganz ungefragt fest gedrückt werden, weil ich schon verstehe, wie anstrengend es ist, die U-Bahn-Fahrt zu überleben? Vielleicht ist es für dich nie cool umarmt zu werden und die ständigen Nachfragen stellt deine klare Grenze in Frage, weil du eigentlich schon erklärt hast, warum es für dich keine coole Begrüßung ist?

Ich berichte hier aus meinen Communities. Deine kann ganz anders aussehen. Letztendlich sind soziale Verbände, die uns außerhalb der Familie und des Freundeskreises Halt geben, immer Communities. Communities sind Stadtteile, Interessensgemeinschaften oder eben der Nähtreff, aus dem über die Jahre ein Netz an komplexen Verbindungen geworden ist, ein Zusammenschluss, der auf Gemeinsamkeiten und Widersprüchen beruht.

In der Hitze des letzten Sommers habe ich zum Selbstschutz als Risikogruppenmitglied niemanden umarmt. Als ich durch die Mietgärten schlenderte, warf sich ein Schwarzer Teenager in meine Arme, zeigte auf meinen Hund und erklärte mir: "Der Hund? Der stinkt!"

Weder ich noch mein Hund wurden vorher gefragt. Doch ich weiß, dass nicht jede*r fragen kann, Umarmungen sind ein Kommunikationsmittel. Wenn du davon ausgehst, dass verbalisierte Aushandlungen für alle zugänglich sind, heißt das nicht, dass du besser im Konsens bist. Es bedeutet, dass autistisches, nicht deutschsprachiges und nonverbales Leben deinen Alltag nicht prägt.

Jede Festlegung eines einzig richtigen Weges für die Aushandlung von Konsens verunmöglicht es, den Kontext aller Beteiligten wahrzunehmen.

Das Antippen der Schulter, das seichte zur Seite schieben in Konzertsälen, das sich Finden von Körpern beim Tanzen. Ich schäme mich nicht mehr dafür, dass ich nonverbale Kommunikation manchmal bevorzuge. Denn das Problem ist nicht, dass manche Menschen durch Körperlichkeit kommunizieren. Das Problem entsteht erst, wenn Menschen davon ausgehen, dass ihre Kommunikationsform für das Gegenüber das Normale oder das einzig Richtige sein muss. Das gilt für körperliche Kommunikation genauso wie für verbale.

Scheitern und Lernen

Darin liegt aber auch begründet, dass wir scheitern werden. Wir werden jemanden verbal fragen, ob er umarmt werden möchte, obwohl diese Person vielleicht nonverbal ist. In meinem Ansatz zum Konsens steckt keine Chance darin, moralische Überlegenheit zu erlangen. Deswegen versuche ich zu fragen, wo immer es geht, und dabei zu beobachten, wie der Körper reagiert. Die koloniale Trennung zwischen Kopf und Körper, die Höherbewertung dessen, was der Mund sagt, sind auch koloniale Konsequenzen. Denn wer kann überhaupt wann Nein sagen? Ein Libanese darf nicht frei darüber entscheiden, welchen Körper er berührt - das entschied im Grunde mitten in einer globalen Pandemie ein deutsches Gericht: Eine verweigerte Staatsbürgerschaft wäre rechtens. Denn die Annahme der Staatsbürgerschaft müsse mit einem Handschlag besiegelt werden, die deutsche kulturelle Norm wird höher bewertet als die konsensuelle Abstimmung der Eheleute.

Gerade in meiner Arbeit mit BIPoCs höre ich oft ein Ja, während der Körper Nein schreit. Ich traue mich jetzt öfter nachzufragen, ein Nein durch Nachfragen einzuladen, ein Ja zu feiern. Ein zurückgenommenes Ja ernst zu nehmen und als Lernmoment zu betrachten: "Gut, dass du das im Nachhinein gemerkt hast. Magst du darüber reden, wie wir das in Zukunft machen?"

Nur wenn ein Nein möglich ist, sind all die anderen Jas etwas wert, diese Regel ist sehr wichtig für mich. Doch was ich mir auch eingestehen muss: Wenn nur ein Nein gefeiert wird, als ob es konsensuelle Edginess (Ausgefallenheit) wäre, werden wir auch nicht mehr darüber wissen, was wir brauchen, vermissen, lieben.

Zuletzt bedeutet für mich Konsens auch, dass es in engeren Verbindungen wie Freund*innenschaften kein Hoheitsrecht auf Bedürfnisse gibt. Konsens auszuhandeln, bedeutet nicht, dass das Gegenüber Glücklichsein mit dem Nein vortäuschen muss, sondern, falls kein Konsens möglich ist, der beide auf Dauer zufriedenstellt, ein Verabschieden erlaubt sein muss.

Deswegen ist Konsens eher wie ein langes Gespräch, welches parallel zu unseren Beziehungen läuft, eine Unterhaltung darüber, ob etwas noch immer so stimmt, noch immer so für beide Seiten Vorteile ergibt. Konsens braucht also nicht nur die Erlaubnis verbal, nonverbal, im Nachhinein und kontextsensitiv ausgehandelt zu werden, sondern auch die Erlaubnis, Bedürfnisse zu feiern, die nicht erfüllt werden können, Unvereinbarkeiten ohne Abwertung einzusehen und daraus gemeinsam Konsequenzen zu ziehen.

Was das für die Praxis bedeutet? Ganz einfach: Es ist zunächst an uns, dieses lange Gespräch in unserem Alltag, welches offene Antworten zulässt, zu üben und zu unserer Alltagspraxis werden zu lassen. Es wird widerständige Gefühle in uns geben. Manchmal passt uns ein Ja nicht, das andere Mal schmerzt ein Nein. Vielleicht wird uns klar, dass wir nur auf eine Art gelernt haben, über Grenzen zu sprechen, oder es fällt uns auf, wie schwer uns das Verständnis für manche kulturellen, altersspezifischen oder traumabegründeten Grenzen fällt.

Unsere Arbeitsstätte geht vielleicht wenig konsensaffin mit uns um, wie darin also Konsens leben? Wenn wir uns das Bild des langen Gespräches erlauben statt des Anspruchs des Gewinnens oder Scheiterns, ermöglicht es uns, Fehler zu machen, Verletzlichkeit zu zeigen. „Ist es okay, wenn ich dich das frage?“ an einen Satz anzuhängen, lässt so manchen Jugendlichen agency, also Handlungsmacht, erfahren. „Nein, es ist nicht okay“ als Antwort zu erhalten ist dann ein Gewinn. Es war nicht okay, was ich getan habe, autsch, aber ich habe gut genug ausgehandelt, um das Nein einzuladen. Und dann? Sich bedanken ist ein guter Schritt: „Danke, dass du mir deine Grenze aufgezeigt hast.“ Das klingt erstmal holprig, doch mit der Zeit wird es authentisch. Es schleicht sich das Gefühl der Dankbarkeit und Gelassenheit ein, wenn ein Nein nicht mehr die eigenen Fähigkeiten in Frage stellt, sondern die Möglichkeiten der Grenzsetzung offenbart. Es nimmt die Verantwortung von den eigenen Schultern, stets alles so zu fragen, sagen, machen, dass es allen gefällt.

Konsens als ein langes Gespräch wird sich mit jeder Person unterschiedlich entwickeln. Ihr findet Abkürzungen, die nur zwischen euch funktionieren, lernt mit jedem Danke öfter Ja und Nein zu sagen. Ihr könnt, wenn ihr unsicher seid, erfragen, was das Gegenüber will und euch auf die Aufrichtigkeit der Antwort verlassen.

Die wichtigste Formel ist aber: Gespräche dürfen auch abbrechen. Wenn es keinen Kompromiss gibt, gibt es keinen Konsens. Ein Kompromiss basiert darauf, dass es einen Mittelweg gibt, der für beide geht. Wenn es nicht geht, darf gegangen werden. Wenn ein Kind die Gruppe wechseln, eine Arbeitnehmerin sich anderweitig bewirbt oder ein Elternteil lieber den anderen Elternteil zum Elternabend vorbeischickt, gilt es, das Ego nicht zu laut werden zu lassen, tief durchzuatmen und sich für das nächste lange Gespräch bereit zu machen - ergebnisoffen, mit sich selbst im Kontakt und bereit, sich zu bedanken.