Stories of Difference

Urbanes Lernen im Kontext kultureller Bildung

Autor*in: Anna Chrusciel

Ich bin im Wedding aufgewachsen, mein Cousin und meine Cousine in Steglitz. Unsere Eltern kamen Anfang der 1980er Jahre mit der großen Ausreisewelle als Aussiedler von Polen nach Deutschland. Ich war 5 Jahre alt, mein Cousin 4, meine Cousine 9. Ich erinnere mich daran, dass meine Cousine, als wir Jugendliche waren, stets besorgt war, wenn mein Cousin mit der U-Bahn in den Wedding fuhr. Der Wedding war für sie das Arbeiter*innenviertel mit den vielen türkischen und arabischen Migrant*innen – im Verhältnis zum gutbürgerlichen Steglitz ein gefährlicher Bezirk. Für mich war der Wedding mein zu Hause. Hier lebte meine Familie, hier hatte ich meine Freunde, hier kannte ich mich aus. Ich mochte meinen Kiez, fühlte mich wohl und sicher. Die Außenperspektive auf den Wedding unterschied sich diametral von meiner subjektiven Wahrnehmung. Im Wedding aufgewachsen zu sein, wurde gleichgesetzt mit einer weniger glücklichen, weniger behüteten Kindheit. Mit meinen Erfahrungen deckte sich diese kollektive Erzählung nicht. Oft treffen subjektive Erfahrungen eines Ortes auf kollektive Erzählungen über denselben. In den wenigsten Fällen stimmen sie überein.

De Certeau bezeichnet „Raum als Ort, in dem man etwas macht.“[1] Raumsoziolog*innen wie Martina Löw konzipieren Raum als Wechselwirkung von Handlung und Struktur[2]. Die Frage, die sich für das urbane Lernen für den Kontext kultureller Bildung daraus ableiten lässt, ist: Wer macht was im urbanen Raum und warum? Im Gegensatz zur Schule ist der urbane Raum offener – Regeln sind weniger festgeschrieben und das, was als „richtiges Wissen“ gilt, nicht so fixiert. In der Stadt sind alle Expert*innen, die über spezifisches Wissen über Stadt verfügen. Strategien im Umgang mit der Stadt sind sehr verschieden, soziologisch betrachtet hängen sie mit vielfältigen Faktoren zusammen. Sozialisierungen spielen eine große Rolle, aber auch Erfahrungen von Zugehörigkeit und Diskriminierung.

Für pädagogisches Handeln, interessiert mich an der Stadt zuallererst die öffentliche Sphäre als Raum der Begegnung. Anders als in privaten und institutionalisierten Räumen treffen hier Menschen unterschiedlicher Lebensweisen, Weltanschauungen, Erfahrungshintergründe und Milieus aufeinander.

Der urbane Raum als per se politischer Raum

Laut A. Benze und U. Walter ist der städtische Raum, „ein vielfältiges politisches, soziales, kulturelles und ökonomisches Geflecht, indem unterschiedliche individuelle Raumerfahrungen gemacht werden. Mit diesen sind viele flüchtige Konstellationen, Zusammenhänge und Bedeutungen verbunden. Um diese sichtbar und erfahrbar zu machen, bedarf es vermittelnder und aktivierender Werkzeuge.“[3] Die Aufgabe urbanen Lernens könnte entsprechend darin liegen Settings zu entwickeln, in denen möglichst viele unterschiedliche Nutzungsweisen und Wissen über den städtischen Raum in Austausch kommen. Dabei ist der urbane Raum immer auch ein umkämpfter und damit per se ein politischer Raum. Nicht zuletzt zeigen das stattfindende Gentrifizierungsprozesse, die in vielen Quartieren die vorhandene Diversität von Lebensweisen angreifen. Das bedeutet, dass auch in Settings urbanen Lernens im Kontext Schule die Perspektiven nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern immer auch die Frage danach stellen, welche Nutzungsweisen legitimer sind als andere.

In einem Projekt an einer Oberschule in einer Stadt in NRW, das ich wissenschaftlich begleitet habe, untersuchten Künstler*innen gemeinsam mit Schüler*innen ihr unmittelbares Umfeld im Hinblick auf Veränderungspotenziale. Die Schüler*innen zeigten sich gegenseitig und den Künstler*innen Orte, an denen sie sich gern aufhielten. Das waren vor allem Geschäfte in der Einkaufzone, die entweder über freies WLAN verfügten oder Läden mit kostenlosen Wasserspendern. Einige der Mädchen führten die Gruppe zu DM. Hier nutzten sie die kostenlosen Proben und Spiegel regelmäßig, um sich auf dem Weg zur Schule zu schminken.

Ulrich Deinet beschreibt diesen Prozess in Anlehnung an die Raumkonzepte von Martina Löw und Albert Scherr als Raumaneignung. Jugendliche eignen sich Räume der öffentlichen Sphäre an, entwickeln Nutzungsweisen, die über die offizielle Funktion hinausreichen und nutzen dafür bereits vorhandene Strukturen.[4] „An die Stelle der Parkbank sind heute zunehmend verhäuslichte öffentliche Räume getreten, die Funktionen eines Treffpunkts übernehmen, wie z.B. McDonalds-Restaurants und Shoppingmalls.“[5] Diese Räume werden von Erwachsenen im Wesentlichen als problematisch angesehen, scheinen aber für die Jugendlichen besondere Raumqualitäten zu besitzen. In Projekten urbanen Lernens lässt sich daran anknüpfen, um diese Prozesse gemeinsam mit den Jugendlichen genauer zu untersuchen. So geschehen in einem Projekt an einer Oberschule in Berlin, in dem Nutzungsweisen des Einkaufzentrums Alexa durch Schüler*innen in den Fokus genommen wurden. Ausgangspunkt des Projekts bildete die Tatsache, dass zahlreiche Schüler*innen das Alexa als Ort nutzten, um sich dort in ihrer Freizeit aufzuhalten, ohne zu konsumieren. Sie probierten beispielsweise Anziehsachen an und fotografierten sich gegenseitig. Im Rahmen des Projekts wurde das Alexa als Ort unter die Lupe genommen, einschließlich gab es einen Blick hinter die Kulissen durch Analyse der Müllproduktion oder der Warenein- und -ausgänge.

Solche Aneignungsstrategien Jugendlicher lassen sich auch im Sinne zivilgesellschaftlichen Engagements analysieren und bewusst machen. Oft greifen Jugendliche bereits in vorhandene Strukturen ein und verändern diese, ohne es zu wissen. Dieses Handeln hinsichtlich der darin liegenden Veränderungspotenziale neu zu bewerten, könnte Jugendliche auch zukünftig motivieren für gezielte Veränderungen aktiv zu werden.

Strategien, die im urbanen Raum angewendet werden, lassen sich auch auf Schule übertragen. Ein spielerischer Versuch über die Nutzungsweisen von Schule in Austausch zu treten und diese temporär zu verändern, war das Projekt „Camping Marianne“, welches an der Nürtingen Grundschule in den Jahren 2015 und 2016 umgesetzt wurde. Zusammen mit einer Gruppe von Kulturakteur*innen, Architekt*innen und schulischen Akteur*innen wurde der Schulhof für jeweils eine Woche in den Sommerferien zum Campingplatz. Camping wurde als Format genutzt, um neue Möglichkeiten der Raumnutzung zu erproben. Initiator*innen des Projekts, Künstler*innen, Kinder, Eltern, Lehrer*innen und der Schulleiter übernachteten in Zelten auf dem Schulgelände. Es wurde Frühsport angeboten, zusammen gefrühstückt. Es gab einen Pool, abendliche Lagerfeuer, ein Sommerkino und ein großes gemeinsames Dinner. Durch die gemeinsamen Aktivitäten entstand eine temporäre Gemeinschaft, die sich im Verlauf der Woche kontinuierlich erweiterte. Die kollektive Behauptung, der Schulhof sei ein Campingplatz, eröffnete für alle neue Handlungsoptionen.  

Es ist nicht neu, dass Schule den Stadtraum zum Zwecke des Lernens nutzt. Auf der Konferenz „Schools of Tomorrow[6]“ im Haus der Kulturen der Welt, legte der schwedische Wissenschaftler Håkan Forsell anschauliches Material dar, wie der Stadtraum im Sinne der „Großstadtpädagogik“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Unterricht genutzt wurde. Während Projekte urbanen Lernens heute stärker als informelles Lernen begriffen werden, nutzte die „Großstadtpädagogik“ die Schule als Institution, um bereits vorab festgelegtes Wissen über Stadt an die Schüler*innen zu vermitteln.

Die Struktur der Stadt und gesellschaftliche Realitäten und Ausschlüsse

Heute bietet urbanes Lernen die Möglichkeit, gemeinsam mit Anderen den städtischen Raum zu erkunden und darin unter anderem die unsichtbaren Linien und strukturalen Verläufe von Zugängen, Möglichkeiten und Macht spürbar und erfahrbar zu machen. Je nach Perspektive, sind alternative Umgangsstrategien in der Stadt notwendig und wertvoll. Die Struktur der Stadt und die Art und Weise, wie ihre Bewohner*innen diese wahrnehmen und nutzen, verrät uns viel über gesellschaftliche Realitäten und Ausschlüsse. Was bedeutet es beispielsweise sich mit einem Rollstuhl durch den Stadtraum zu bewegen? Wie zugänglich ist dieser für Personen mit Kinderwagen? Wo halten sich Menschen verschiedener Lebensweisen, Sozialisierungen und Interessen gemeinsam auf? Wie funktionieren Transitzonen, wie der öffentliche Nahverkehr? Welche Qualitäten besitzen Konsumorte? Welche Orte meide ich als Frau, welche als Muslima, als PoC, als queere Person und welche als Geflüchtete*r ohne Bleibestatus? Was sind Überlebensstrategien von illegalisierten Menschen in einer Stadt?

Der letzten Fragen ist das Projekt „Bleibeführer“ nachgegangen und hat analog zu einem Reiseführer das Wissen von Geflüchteten mit und ohne Papiere über die Stadt Zürich vereint.[7] Ziel war es, sich auf eine Weise durch Zürich zu bewegen, die das Bleiben ermöglicht. Darin versammelt war unter anderem Wissen über kostenlose ärztliche Versorgung, über Orte starker Ausweiskontrollen, die zu meiden sind, über Möglichkeiten günstig zu essen bzw. Anziehsachen zu erwerben. Über dieses hier versammelte Wissen verfügen die Anwohner*innen der Mehrheitsgesellschaft nicht. Sie brauchen es auch nicht. Und dennoch eröffnet ihnen dieses Wissen eine Perspektive auf ihre Stadt, die ihnen sonst vorenthalten bleibt. Einerseits spiegelt sie ihre Privilegien und andererseits weist sie auf die diskriminierenden Strukturen ihrer Stadt hin.

Der öffentliche Raum als Differenzraum

Gerade dort, wo die unterschiedlichen Perspektiven aufeinandertreffen, die Unterschiede sichtbar und erfahrbar werden, eröffnet sich die Möglichkeit zur Auseinandersetzung darüber, dass Stadt eben nicht gleich Stadt ist, sondern ein Raum, der vor allem auch als Differenzraum zu begreifen ist, in dem die Möglichkeiten des Handelns ungleich verteilt sind. Vom urbanen Raum zu lernen, könnte in dieser Perspektive bedeuten, Stadt lesen zu lernen und damit die ungleiche Verteilung von Möglichkeiten wahrzunehmen und zu hinterfragen. Diesem Ansatz folgt das in New York City angesiedelte Center for Urban Pedagogy. Das Center arbeitet mit Schulen zusammen und vermittelt Ansätze politischen Handelns in der Stadt, die an die konkreten Problemlagen von Schüler*innen, Anwohner*innen oder Gemeinden andocken. Gemeinsam mit den Beteiligten werden Handlungsstrategien entwickelt, um diese zu bekämpfen. Dafür nutzt das Center künstlerische Praxis (Design, Film, Audio, Perfomance) und befähigt die Beteiligten durch die Aneignung von Wissen über Stadt, Veränderungsprozesse in Nachbarschaften und Quartieren in Gang zu bringen. Resultate der Projekte adressieren Probleme, die über das konkrete Projekt hinausreichen und auch in anderen Kontexten einsetzbar sind. Dies kann in einer gedruckten Informationsbroschüre über den Zusammenhang von Feuchtigkeit in Wohnblöcken mit Asthmaerkrankungen sein, die Betroffene über ihre Rechte informiert und ihnen vermittelt, wohin sie sich wenden können, um notwendige Renovierungsmaßnahmen einzufordern[8]. Dies kann auch in ein Toolkit münden, welches über die Frage von „erschwinglichem Wohnraum“ reflektiert und Gemeinden dabei unterstützt, die politischen Grundlagen für städtebauliche Entscheidungen besser zu verstehen und ihnen gleichzeitig aufzeigt, wie sie in ihrem Sinne intervenieren können[9].

Wenn also, wie die relationale Raumtheorie besagt, Struktur und Handlung in Wechselwirkung zueinander stehen und Raum durch Handlungen veränderbar wird, liegt hierin das große Potenzial für Veränderung. Minoritäres Wissen ist in diesem Zusammenhang besonders wertvoll, weil es konkrete Veränderungsbedarfe aufzeigt. Hier sollten Projekte urbanen Lernens ansetzen.

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Urbanes Lernen im Kontext Kultureller Bildung

Fußnoten

[1] Certeau, M. de: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218

[2] Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

[3] Benze, A.; Walter, U.: Das Quartier als Lernraum für Jugendliche.

[4] Vgl. Ebenda, S. 162

[5] Deinet, Urlich: Raumaneignung als Bildung im Stadtraum, In: Coelen, Thomas; Heinrich, Anna Juliane; Million, Angela (Hrsg.): Stadtbaustein Bildung, Wiesbaden 2015, S. 161

[6] Vgl. www.hkw.de/en/programm/projekte/2017/schools_of_tomorrow/schools_of_tomorrow_start.php

[7] Der Bleibeführer zum Download: www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/download/.../MFV0504.pdf

[8] Beispielprojekt „Is Your Home Making You Sick?“ welcometocup.org/Projects/MakingPolicyPublic/WEACT [26.08.2018]

[9] Beispielprojekt „What Is Affordable Housing?“ welcometocup.org/Projects/EnvisioningDevelopment/WhatIsAffordableHousing [26.08.2018]