Kunst kommt von Können?!
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Zugehörigkeitskontrolle im Konzertsaal

Dr. Dr. Daniele G. Daude über Klassismus in der Klassik

Zugehörigkeitskontrolle im Konzertsaal
Ein Notenständer mit einem Notenheft
Illustration: Leyla Sehar-Madauß

Ouverture[1]


1.

Auch wenn ich klassische Musik liebe, muss ich mich ein wenig überwinden, ins Konzert zu gehen. Einmal angekommen, wiederholt sich die gleiche Szene: unverschämte Blicke starren mich und meine Begleitung an. Einfach so. Es gibt die ganze Palette an Gefühlsregungen dabei.

Unverständnis: „Was machst DU denn hier?“

Neugier: „Wie ist es möglich, dass DU hier bist?“

Fetischisierung: „Interessant, DAS habe ich noch nie probiert!“

Entsetzen: „Wie kannst DU es wagen, hier zu sein?“

Feindseligkeit: „Hau ab DU…! Das hier gehört MIR!“

Überforderung: „Dass DU überhaupt hier bist, übersteigt mein Vorstellungsvermögen.“

Schon dreijährige weiße bildungsbürgerliche Kinder spüren, dass sie alles anstarren, auf alles mit dem Zeigefinger zielen und laut kommentieren dürfen, was sie nicht aus ihrer Welt kennen: „Das werden sie wohl machen dürfen!“, „Das steht ihnen doch zu!“, denken ihre Eltern. Die Kinder tun mir leid. Sie können nichts dafür, dass ihre Eltern an einem Überlegenheitskomplex mit eingeschränkter Vorstellungskraft leiden. Sie lernen von klein auf, dass sie Sachen besitzen und vor allem, dass sie damit alles machen dürfen. Später übertragen sie ihren Besitzanspruch auf Menschen und Orte. Die städtischen bürgerlichen Kinder lernen, sich von den „Prolls“ abzugrenzen, die zwar auch weiß, aber vom Land, Bauernkinder, Arbeiterkinder in Jogginghosen sind. Sie lernen, dass diese Leute weder Geschmack, Intelligenz noch Sinn für Ästhetik haben. Sie lernen, dass „die Prolls“ in der Regel nicht weiß sind, das ist auch praktischer, um sie zu erkennen. Sie lernen früh, dass sie darüber entscheiden dürfen, wer in ihre sozio-kulturelle Welt gehört und wer nicht. Sie sind irritiert, Menschen zu treffen, die sich außerhalb ihrer Klasse bewegen.  

2.

Wenn ich klassische Musik liebe und Harz-IV-Empfänger*in[2] bin oder in prekären oder  unterbezahlten Arbeitsverhältnissen lebe, überlege ich genau, in welches Konzert ich abends gehe. Gehe ich zu einem Konzert, wo ich meine Freund*innen treffe und mich an einem Tisch mit ihnen austausche, oder gehe ich ins Kino, wo ich mich ablenken kann und mich ebenfalls mit meinem Freund*innenkreis darüber aufregen oder begeistern kann. Oder gehe ich in ein klassisches Konzert – dann allerdings allein, denn mein Umfeld findet das „zu spießig“. Ich fange an zu rechnen: Fahrkarte hin 3 Euro, Fahrkarte zurück 3 Euro, die billigsten Karten sind alle weg, also beginnt es bei 25 Euro. Bis wann geht das Konzert? Gibt es noch öffentliche Verkehrsmittel danach, ein Taxi würde mein Budget sprengen. Ich sehe, dass es ein Kontingent für Azubis, Studierende, Senior*innen und Empfänger*innen von ALG II gibt. Der Ausweis muss nur an der Kasse vorgezeigt werden. Diese Demütigung tue ich mir nicht an. Dann plane ich eben länger im Voraus. Das nächste Konzert ist in zwei Monaten. Ich buche und hoffe, den Termin nicht – wie beim letzten Mal – zu vergessen.

3.

Wenn ich klassische Musik liebe, aber weder Noten lesen kann noch ein Instrument spiele, fühle ich mich fehl am Platz. Schon die Diskussionen im Foyer strengen mich an. Wer, was, wann gespielt, welche Wettbewerbe und Preise gewonnen hat, wer besser ist und warum etc. Das interessiert mich nicht einmal. In der Pause geben die Herrschaften“[3] dann ihre Lieblingskommentare ab: der Klangkörper sei „nicht organisch genug“, die Solistin nicht passend angezogen, ihre Musik sei immer „zu dies und zu wenig das“, der zweite Satz sei viel zu schnell interpretiert, „Unverschämt!“, die Holzgruppe sei zu hoch, das Blech „natürlich“ viel zu tief und überhaupt habe alles die „Qualität eines Amateurorchesters!“. Die Qualität ist für die „Experten“ im Publikum extrem wichtig. Diese „Experten“ sind die eigentlichen Wächter musikalischer Qualität. Nach Jahrzehnten der Beobachtungen dieser interessanten Kreise – ich gelte ja nicht als Ansprechpartner*in und kann daher alles in Ruhe mitanhören, ohne wahrgenommen zu werden – stellte ich fest, dass das, was mit „musikalischer Qualität“ gemeint ist, wenig mit Musik zu tun hat. Es sind nur Meinungen von Personen, die sich über das, was sie gehört und gesehen haben, austauschen. Doch sie verkaufen ihre Meinung als fachliche Expertise. Warum wollen sie unbedingt, dass ihre Meinung keine subjektive Geschmackssache ist, sondern als objektiv, neutral und wissenschaftlich angesehen wird?          

4.

Mein Verhältnis zur Neuen Musik ist ambivalent. Ich liebe „Gay Guerilla“ und „Feminism“ von Julius Eastman, vieles von Luigi Nono, die breiten Flächen Ligetis und Pierre Schaeffers Musik finde ich immer noch lustig, da sie mich an die Zeichentrickserie „Die Shadoks“ erinnert. Wenn ich aber ins Konzert gehe, wo Komponist*innen, die ich nicht kenne, aufgeführt werden, bin ich immer leicht angespannt. Werde ich heute angebellt, angeschwiegen oder mit Tinnitus-Tönen gefoltert? Sagen kann ich das nicht, sonst würde ich zu einem regressiven Tonal-Banausen[4] erklärt und wäre von der post-tonalen Kunstfreiheitsgemeinschaft für immer ausgeschlossen. Ich will aber dabeibleiben. Denn manchmal mag ich, was ich höre und sehe. Und wenn sie sich nicht so ernst nehmen, können Komponist*innen und Performer*innen auch richtig lustig werden, sogar subversiv. Das Potenzial wird aber selten ausgenutzt. So kommt es mir jedenfalls vor. Also schweige ich und höre geduldig zu, während die Insiderwitze auf der Bühne fertiggespielt werden. Ich lese dann fleißig das Programmheft, wo die Konzeption erklärt wird, verknüpfe sie mit denen, die ich kenne, beurteile ihr Gelingen oder Scheitern im Hinblick auf die Ausführung des Konzepts. Und gut ist.      

5. 

Wenn ich klassische Musik liebe und alleinerziehendes Elternteil bin, überlege ich, ob ich mir die Kinderbetreuung gerade leisten kann, welcher Person ich meine Kinder anvertrauen kann oder ob ich es doch lieber lasse. Warum wird an Konzert- und Opernhäusern eigentlich nie Kinderbetreuung angeboten?    


Allegro ma non troppo, un poco Maestoso[5]

Diese fünf realen Situationen zeigen beispielhaft, wie sich eine kleine Gruppe permanent durch Gewalt und Ausschlüsse definiert. Klassenzugehörigkeit wird hier als kollektive Performanz deutlich. Es ist ein Prozess der Gemeinschaftsbildung, der nur durch ständige Wiederholung und hegemoniale Unterdrückung der anderen funktioniert. Diskriminierungen aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher Klassenangehörigkeit werden dabei immer mit weiteren Unterdrückungsformen kombiniert – wie etwa mit Sexismus, der Verachtung des ländlichen Lebenraums, patriarchaler Familienpolitik, Ableismus, Rassismus etc. Um diese Ausschlussmechanismen zu ergründen, hat es deshalb wenig Sinn, sich nur auf Klassismus zu konzentrieren, denn diese Kategorie allein erfasst weder die miteinander verstrickten Unterdrückungsformen noch die intersektionelle Lebensrealität der ausgeschlossenen Personen und Gruppen im Konzertsaal.

Wer ist also „das“ Konzertpublikum? Auf diese Frage wird es hier keine Antwort geben. Je nach gesellschaftlichen Positionierungen, Erfahrungs- und Wissensständen, je nachdem, welcher Fokus, welche ästhetischen Voraussetzungen, Epochen, Gattungen, Genres erfasst werden, fallen die Antworten komplett unterschiedlich aus. Selbst innerhalb der akademischen Fächer, die sich mit Musikpublika in „der“ klassischen Musik beschäftigen, herrscht keine Einigkeit darüber, was wohl darunter zu verstehen ist. Auch das Interesse für das Musikpublikum bleibt in der akademischen Musikwissenschaft marginal. Im Jahr 2021 werden musikalische Werke immer noch überwiegend außerhalb ihrer sozialen, historischen und politischen Aufführungskontexte erforscht. Im Musikstudium werden Werke von ihren Entstehungs- und Rezeptionskontexten scharf getrennt: entweder wird das ahistorische, geniale Kunstwerk an und für sich, also ohne Kontext, betrachtet. Oder es werden all die soziologischen, kulturwissenschaftlichen, feministischen Forschungen, Gender-, Queer- und Postcolonial Studies einbezogen, die die Werke im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Positionen der Komponist*innen und ihre Deutungs- und Rezeptionsgeschichte untersuchen. Dieser letzte Ansatz wird allerdings von Musikwissenschaftler*innen immer noch als unseriös erklärt. Das Publikum ist im Musikstudium so irrelevant, dass es bis zum Jahr 2010 im wichtigsten deutschsprachigen Lexikon, dem 29-bändigen Werk „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG), keinen Eintrag dazu gab.  

In seiner Abhandlung „Das Publikum macht die Musik“[6] setzt sich Sven Oliver Müller mit der Entstehung der klassischen Musikkultur in Europa auseinander. Der Historiker hat eine interessante Perspektive auf die Entstehung einer bürgerlichen Gemeinschaft, die sich als kulturelle Elite denkt und aufführt. Müller formuliert acht Hypothesen, die zur Gemeinschaftsbildung einer kulturellen Elite beitagen. Gerade seine siebte These ist im Kontext von Klassismus in der klassischen Musik relevant:

„Das Publikum macht die Musik […], weil Entstehung und Erfolg von Kompositionen erst durch die Entscheidungen sozialer Gruppen und die Investitionen der Veranstalter zu erklären sind. […] Die Beliebtheit bestimmter Werke oder Gattungen wird dabei weniger durch ihre ästhetische Qualität begründet als durch deren Bewertung durch die Praktiken der Musikfreunde.“[7]

Andante cantabile[8]

Ich wohne in Berlin. Hier liegt der berühmteste Konzertsaal für klassische Musik, die Berliner Philharmonie, in der Nähe des Tiergartens am Potsdamer Platz, unweit der Staatsbibliothek, des Kulturforums, der Neuen Nationalgalerie, der Gemäldegalerie, des Musikinstrumentenmuseums, des Kinos Arsenal; kurz, im Zentrum dessen, was unter „Kultur“ verstanden wird. Der Konzertsaal ist umgeben von Museen, einer Bibliothek, von Kunst und einem Kino - und das alles mitten in einem Businessviertel. Vom Hermannplatz aus, einem zentralen Platz in Neukölln, einem populären Viertel in Berlin, braucht Mensch 20 Minuten mit dem Fahrrad und 30 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Vom U-Bahnhof Wedding in einem anderen populären Viertel in Berlin braucht Mensch ungefähr die gleiche Zeit. In der Innenstadtzone kostet eine Fahrkarte derzeit[9] drei Euro. Also drei Euro für die Hin- und drei Euro für die Rückfahrt. In der Philharmonie gibt es zwölf Preiskategorien[10]. In den ersten vier Kategorien gibt es Karten von neun Euro bis 35 Euro (Stehplätze), 12 Euro bis 55 Euro (Podium), 16 Euro bis 95 Euro (Sonderplätze). Dabei gibt es eine „barrierefreie“ Kategorie genannt „Behindertenloge“[11] von 25 Euro bis 120 Euro. Es heißt: „Rollstuhlfahrern und ihren Begleitern stehen 16 Plätze in der Versehrtenloge zur Verfügung“ (von 2.250 Plätzen im Großen Saal) und weiter „Rollatoren und Gehhilfen dürfen aus Sicherheitsgründen nicht mit in den Saal genommen werden. Sie können an den Garderoben oder vor dem jeweiligen Saalzugang abgestellt werden.“ Denn es kommen bekanntlich nur Cis-Männer mit ihren cis-männlichen Begleitern in die Konzerte. Wenn diese Kategorien ausverkauft sind, kommen wir in die Preisgruppen I bis VIII. Dort gehen die Preise von 21 Euro (diese Plätze sind in der Regel zuerst ausverkauft) bis 290 Euro.

Die Philharmonie erkannte Ende der 2000er[12], dass die Preise möglicherweise ein Grund dafür sein könnten, dass keine Verjüngung, Demokratisierung und Diversifizierung des Publikums stattfindet, und bemüht sich seither um neue kostenlose Formate an Schulen und für Erwachsene. Im Oktober 2007 entstand dann das Lunchkonzert, ein kostenloses Konzert von 40 bis 50 Minuten im Foyer. Die Konzerte finden bis heute jeden Dienstag statt. Besucher*innen dieser Konzertreihen sind allerdings vor allem Rentner*innen und Musikstudierende. Denn die Konzerte finden mittags statt. Somit werden die anvisierten Zielgruppen von Anfang an ausgeschlossen: Personen in prekären Arbeitsverhältnissen mit Präsenzpflicht, unterbezahlte Arbeitnehmer*innen mit festen Dienstplänen, Schicht-arbeiter*innen etc. Bevorzugt werden immer noch drei Gruppen: die Freiberufler*innen, die Musikstudierenden und natürlich das Abonnementpublikum, ältere Damen und Herren, auf die Konzert- und Opernhäuser finanziell angewiesen sind.  


Scherzo molto vivace[13]

2016 entstand in Hamburg die concerti Klassikstudie[14]. Bei dieser Studie wurden zwischen Oktober 2015 und Februar 2016 4.742 Personen befragt. Sie erhob u. a. „die Beschreibung der Soziokultur (Alltag, Status, Milieu, Konsum, Interessen) der an ernsthafter Musik interessierten Bevölkerungsgruppen, differenziert nach Alter, Bildung, Status, Urbanität und Region“ und „die Beschreibung der Hauptmerkmale (Einstellungen, Gewohnheiten, Umstände) der Intensiv- und Gelegenheitshörer“.[15] Dabei stellten die Autor*innen fest: „Rund zwei Drittel der Klassikhörer geben an, dass sie in der Freizeit selbst musizieren. Drei Viertel von ihnen sagen, dass sie mit anderen gemeinsam musizieren, sei es im Chor, in einem Orchester oder in Form von Kammermusik. Klassische Musik hat für sie offenbar auch die Bedeutung, ein Medium für soziale Kontakte und Beziehungen zu sein.“[16] Auch wenn diese Studie nur der Bruchteil einer Bestandsaufnahme sein kann, zeichnen sich dennoch Tendenzen ab: 50 Prozent der Zuhörer*innen haben ein abgeschlossenes Universitätsstudium (S. 17). 24 Prozent sind nichtleitende Angestellte, gefolgt von 12 Prozent Freiberufler*innen (S. 18). 8 Prozent verdienen weniger als 1.000 Euro pro Monat. Die meisten Hörer*innen haben ein Monatseinkommen zwischen 1.000 Euro und 3.000 Euro (35,2 Prozent), gefolgt von 3.000 bis 4.000 Euro (15,5 Prozent) und schließlich über 4.000 Euro (19 Prozent) (S. 19).

Im Konzertsaal können die Angehörigen einer kleinen, weißen, bildungsbürgerlichen Gemeinschaft für einen Abend „Master Of The Universe“ spielen. Sie stärken sich gegenseitig (Co-Validierung) und präsentieren sich als wahre Wächter*innen einer bedrohten „Hochkultur“. Dies bewirkt zum einen ständige gewaltvolle Ausschlüsse prekärer und generell nicht normativer, nicht weißer Personen und Gruppen. Zum anderen wird erzählerisch eine Umkehr vorgenommen, indem die offensiven wiederholten Ausschlüsse vonseiten Bildungsbürgertum als Verteidigung gegen „Angriffe auf ihre Hochkultur“ konstruiert werden. Seit 2020 sind die multiplen Kritiken an der weißen patriarchalen Klassikwelt unüberhörbar geworden. Viele Fälle sexuellen Missbrauchs von Männern in Machtpositionen wurden öffentlich, Schwarze Komponist*innen, Dirigent*innen, Opernsänger*innen berichten von massiven rassistischen Praktiken auf Festivals, in Konzert- und Opernhäusern, der Verein Pro Quote[17] beauftragt Studien[18] und arbeitet an einer bundesweiten Frauenquote. Da diese Vorwürfe mit dem Selbstbild des Bildungsbürgertums, die sich als weltoffen, intelligent, frei, geschmackvoll, kultiviert, gar raffiniert versteht, vollkommen kollidieren, reagiert der Kulturbetrieb: Institutionen thematisieren „Diversität“, „Inklusion“, „Klassismus“ etc. und behalten dabei Machtstrukturen sowie exklusive Besetzungspolitik unauffällig bei.


Finale [19]

„If I am thinking about my grandchildren, we need to do more than a token Black person in the space temporarily, and think about it structurally: who are the gate keepers? Who is around the table? Who is making decisions that mean that the doors can stay open?”[20]

Ayanna Witter-Johnson, Komponist*in

Dieser Einblick in Rituale und Bräuche der weißen Bildungsbürgertum im klassischen Konzertbetrieb zeigt beispielhaft, wie mehrfache Ausschlüsse dazu da sind, eine angestrebte Kulturgemeinschaft gewaltvoll zu behaupten. Nicht die musikalischen Werke stehen dabei im Zentrum, sondern eine immer wieder wiederholte „Anbetung der Asche“[21]: die Tradition. Mit dem magischen Schlagwort „Tradition“ entscheidet die kleine Gemeinschaft darüber, was genial ist und was nicht, was Qualität ist und was nicht, was richtig ist und was nicht, wer dazu gehört, was möglich ist; kurz: was relevant ist und was nicht. Mitglieder dieser Gemeinschaft erklären sich zu Verfechter*innen der Hochkultur“, gegen werkuntreue Musiker*innen, gegen den Einbruch der Popkultur in den klassischen Musikbetrieb und die Oper, gegen eine ahistorische Aufführungspraxis, gegen die Gleichwertigkeit von Filmmusik und Sinfonie- und Opernmusik, gegen tonale Neue Musik und vor allem gegen die Politisierung großer Kunstmusik und ihrer „genialen Komponisten“[22]. Kurz, gegen das „Kaputtmachen“ aller schönen Kindheitserinnerungen. Alle Mitglieder dieser Kulturgemeinschaft unterschreiben deshalb einen impliziten Vertrag, welcher besagt: Klassische Musik ist der akustische Beweis der kulturellen Überlegenheit weißer cis-heterosexueller europäischer Männer. Deshalb ändert die Präsenz einer Schwarzen Person im Orchester, einer Muslima mit Kopftuch am Dirigierpult oder eines blinden Opernsängers absolut nichts am System.

Das rapide alternde und schrumpfende Konzertpublikum zwingt Konzert- und Opernhäuser dazu, sich Gedanken über den Erwerb eines neuen, breiten, diversen und jungen Publikums zu machen. Das ist die Bedingung zum Überleben. Widerwillig erfinden Institutionen sporadische Projekte ohne jegliche Nachhaltigkeit. Das geschieht immer nach dem gleichen Muster: weiße bürgerliche Kulturschaffende denken sich Kulturprogramme für ihresgleichen aus und wundern sich dann tatsächlich darüber, dass nicht massenhaft BIPoC in die Konzertsäle stürmen, wenn eine Oper ins Türkische übersetzt, Beethoven mit House Musik gesampelt oder Sinfonien mit Tombak- oder Kora-Improvisation gespielt werden.


Allegro con fuoco[23] 

Eine ernsthafte und nachhaltige Veränderung bedarf einiger unerlässlicher Schritte:

  1. Mit der darwinistischen[24] und kanonischen Auffassung von Musikgeschichtsschreibung brechen und weitere plurale Modelle anbieten: z.B. kritische Ansätze der New Musicology, feministische, dekoloniale und intersektionale Musikgeschichtsschreibung
  2. Musik von BIPoC Komponist*innen auf Festivals, in Konzert- und Opernhäusern aufführen und somit auch eine Interpretationsgeschichte beginnen
  3. Förderung von Musikunterricht, Instrumentenverleih und Konzertbesuch
  4. Förderung von Personen und Gruppen, insbesondere BIPoC, die von mehrfacher Prekarität betroffen sind
  5. Geschriebene Konzertmusik als Teil eines kulturellen, politischen und ideologischen Diskurses des Bildungsbürgertums erfassen und untersuchen
  6. Alternative Praktiken und Strukturen erschaffen, jenseits bürgerlicher Ideologie

„Music does not discriminate, People do.”

Chi Chi Nwanoku, Gründerin des Chineke! Orchestras


Quellen:

bell hooks: Die Bedeutung von Klasse. Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind. Aus dem Original Where we stand: class matters 2000 übersetzt von Jessica Yawa Agoku. UNRAST, Münster 2020.

Hamburg Media School: „Typisch Klassik!" concerti Klassikstudie 2016. Eine Repräsentativbefragung über Interessen, Gewohnheiten und Lebensstile der Klassikhörer in Deutschland. http://www.miz.org/downloads/dokumente/795/2016_concerti_Klassikstudie_2016.pdf

Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhunde. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2014.

Berliner Philharmoniker:
https://www.berliner-philharmoniker.de/konzerte/saalplaene-preisliste-philharmonie/
https://www.berliner-philharmoniker.de/barrierefrei/

Ayanna Witter-Johnson: Black Lives in Music. Interview mit Zeze Millz und Xhosa Cole (06.04.2021) https://www.youtube.com/watch?v=C27ayW2UdaY

Chi Chi Nwanoku: TED Talk (14.01.2016)
https://www.youtube.com/watch?v=nZPioq5dEHs

 

 

Dr. Dr. (phil) Daniele G. Daude ist Dozent*in und Dramaturg*in. Daniele promovierte 2011 im Fach Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und 2013 im Fach Musikwissenschaft an der Université Paris 8. Seit 2008 unterrichtet Daniele an Deutschen und Französischen Hochschulen. 2013-2015 leitete Daniele die Abteilung Theater an der Kunsthochschule Campus Caribéen des Arts (Martinique) und arbeitet seit 2016 als Dramaturg*in für Musik und Theater - derzeit auch als Kurator*in der intersektionalen Feministischen Reihen am Theater Oberhausen. Neben der akademischen Laufbahn schloss Daniele das Musikstudium am Conservatoire National (Region La Courneuve) mit Auszeichnung (2000-2001) ab und gründete die Musikprojekte „Com Chor Berlin“ (2013) und „The String Archestra“ (2016) um die Werke BIPoC Komponist*innen eine Plattform zu geben. Das Ensemble ist 2021 mit dem TONALi Award Kategorie "Mut zur Utopie" ausgezeichnet worden. 

http://danielegdaude.com/

https://www.com-chor.de/

https://www.thestringarchestra.com/


[1] Die Begriffe „Ouverture“, „Andante“, „Scherzo“ und „Finale“ bezeichnen die vier Sätze einer Sinfonie seit ihrer Festlegung im 18. Jahrhundert. Jeder Satz erfüllt dabei eine bestimmte Funktion in der Sinfonie. Dieser Text ist wie eine klassische 4-Satz-Sinfonie aufgebaut. Die Bezeichnung Ouverture/Ouvertüre kommt aus dem Französischen und bedeutet „Eröffnung“. Hier werden alle musikalischen Themen zusammenfassend dargestellt, die dann im Laufe der Sinfonie entwickelt werden. Dann kommt der erste Satz Allegro, was „heiter“ und „fröhlich“ bedeutet und zugleich eine Tempoangabe ist – also angibt, wie schnell der Satz gespielt wird. Daran schließt ein langsamer „ruhig gehender“ Satz, Andante, an. Dann folgt das „rasche“ Scherzo, ein „spaßiger“ Satz oft mit Tanzcharakter, bevor es zum letzten Satz übergeht. Finale bedeutet „Ende“ und ist folgerichtig der Schlusssatz der Sinfonie.

https://www.theorie-musik.de/sonstiges/musikformen/die-symphonie/

[2] Der Berliner Regelsatz 2021 beträgt 446 Euro. https://www.hartziv.org/

[3] Heterosexuelle weiße Cis-Männer des Bildungsbürgertums über 50 sind zwar massiv überrepräsentiert und praktizieren Mansplaining (damit ist ein Verhalten gemeint, bei dem Männer ungefragt ihrem meist weiblichen Gegenüber etwas erklären in der Annahme, sich sehr gut in der Thematik auszukennen)auf einem beeindruckenden Level, doch alle Altersgruppen und Cis-Frauen beteiligen sich ebenso an den Urteilen, wenn auch mit anderen Strategien und Mitteln.

[4] In den zeitgenössischen Musikszenen werden klare Linie zwischen tonalen und „avant-gardistische“ Musik gezogen. Tonal Musik darg sich vom europäischen Mittelalter bis Anfang des 20Jh. entfalten. Dann kommen Moderne und Avant-Garde, die die Tonalität in Frage stellen und viele andere Kompositionsprinzipien vorschlagen wie u.a. die Atonalität, Musik Serielle, Aleatorik, Musik Experimentale etc. Total zu komponieren wie in Film-, Animationsmusik und Popkultur der Fall ist, wird in diesem Kontext als Rückständig erfasst.   

[5] Bekanntes Zitat zu Beginn von Beethovens 9. Sinfonie. Es bedeutet „Heiter aber nicht schnell, etwas majestätisch“.

[6] Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.

[7] ebd. S. 22.

[8] Andante cantabile lässt sich mit „langsam singend“ übersetzen.

[9] Stand September 2021.

[10] www.berliner-philharmoniker.de/konzerte/saalplaene-preisliste-philharmonie/

[11] https://www.berliner-philharmoniker.de/barrierefrei/

[12] Als Orientierung: Die Berliner Philharmonie wurde 1963 eröffnet.

[13] Scherzo ist der vorletzte Satz einer Sinfonie und bedeutet „spaßiger“ Satz. Er ist oft mit Tanzcharakter in 3/4 . „Scherzo molto vivace“ bedeutet „sehr lebhaft, spaßig“

[14] „Typisch Klassik!" concerti Klassikstudie 2016. Eine Repräsentativbefragung über Interessen, Gewohnheiten und Lebensstile der Klassikhörer in Deutschland. Die Methodologie der Studie wird auf S. 4 beschrieben:

„Es war vor allem dieser Widerspruch aus öffentlicher und eigener Wahrnehmung sowie das vorliegende Zahlenmaterial zum Interesse an klassischer Musik, der uns dazu motiviert hat, die Klassikhörer in Kooperation mit der Hamburg Media School (HMS) genauer zu beleuchten und herauszufinden, was genau ihre Interessen, Gewohnheiten und Lebensstile sind. Insgesamt 4.742 Teilnehmer haben den umfangreichen Fragebogen beantwortet. Daraus haben die Forscher der Hamburg Media School eine repräsentative Stichprobe gebildet, die Antworten ausgewertet und die Befunde analysiert.“

http://www.miz.org/downloads/dokumente/795/2016_concerti_Klassikstudie_2016.pdf

[15] „Typisch Klassik“, S. 8.

[16] „Typisch Klassik“, S. 6-7.

[17] Pro Quote Medien e.V ist ein Verein, der zum einen Daten zu sexistischer Diskriminierung sammelt (u.a. durch Studien) und sich zum anderen für Frauenquoten in Führungsetagen einsetzt. 

www.pro-quote.de/wp-content/uploads/2021/02/Proquote_Online-Interviewstudie.pdf

[18] Im März 2021 veröffentlichte das Deutsche Musikinformationszentrum einen Bericht über „Geschlechterverteilung in deutschen Berufsorchestern“. Dort wird der Frauenanteil an den 129 öffentlich subventionierten Deutschen Berufsorchestern ausgewertet. Der Abstand wird bei den höher angesehenen und weniger angesehenen Positionen besonders deutlich: 70 Prozent der Konzertmeister*innen sind beispielsweise Männer. Dagegen sind 66,4 Prozent der Tuttist*innen (Nicht-Solist*innen) Frauen. Bei Instrumenten wie Pauke, Tuba, Posaune, Horn, Fagott, Klarinette und Kontrabass gibt es einen Männeranteil zwischen 85,3 Prozent und 98,1 Prozent. Bis auf die Flöte bleiben Blasinstrumente eine Männerdomäne mit 74 Prozent Männeranteil. Allein die Gruppe der Bratschist*innen ist mit 50,4 Prozent Männern zu 49,6 Prozent Frauen relativ ausgeglichen. themen.miz.org/musikleben-in-zahlen-orchestererhebung

[19] Finale lässt sich mit „Ende“ übersetzen.

[20] „Wenn ich über meine Enkel*innen nachdenke, braucht es definitiv mehr als eine*n Quotenschwarze*n, der*die auch noch nur temporär da ist. Wir müssen über Strukturen nachdenken: Wer sind die Entscheidungsträger*innen? Wer sitzt eigentlich mit am Tisch [und wer nicht]? Wer entscheidet darüber, ob die Türen offenbleiben?“

Black Lives in Music: Zeze Millz Talks style, heritage, joy and more with Ayanna Witter Johnson and Xhosa Cole (6.4.2021) https://www.youtube.com/watch?v=C27ayW2UdaY. Übersetzung: Daude

[21] „Die Tradition ist die Wiedergabe des Feuers nicht die Anbetung der Asche“, soll Gustav Mahler einst gesagt haben.

[22] Geniale Komponisten sind zufälligerweise weiß, cis-männlich, bildungsbürgerlich.

[23] Allegro con fuoco lässt sich mit „schnell mit Feuer“ übersetzen.

[24] Damit ist eine heute noch immer in Schulen Universität und populären Kulturen mehrheitlich vertretene Auffassung von Musikgeschichte als eine lineare Evolutionsgeschichte. Diese eingeengte Auffassung von Geschichte führt dazu, dass alle Produktionen und Komponist*innen, die diese Linie nicht verfolgen, abgewertet und für irrelevant erklärt werden. Z.B. Tonale Komponist*innen nach 1945.