Klassismus, Liebe und Kunst
Performativität und Widerstand. Die Ablehnung und Unterdrückung des Lichts in westlichen Kunstakademien und Kulturinstitutionen
Ein Lehrer: Did you study English?
Cemile: Yes, I am.
Lehrer: The answer is wrong. It must be: Yes, I studied English.
Eine Lehrerin: How tall are you?
Cemile: I am fourteen years old.
Ein dritter Lehrer schaut auf die kaputten Schuhe, die das Mädchen trägt, und fragt sie:
Was macht dein Vater?
Cemile: Er arbeitet als Kutscher.
Nach einem kurzen Gespräch fragt die Lehrerin: Why did you choose not to study?
Cemile antwortet nicht, dreht sich um, weint und schaut auf die große Tafel hinter sich.[1]
Ich spreche von der Kunst von Künstler*innen, die in ihrer Kindheit Jahr für Jahr mit der Familie in riesigen Plantagen, in Backsteinfabriken unerträgliche Arbeit verrichtet haben oder zu Hause jahrelang Teppiche geknüpft haben. Von Kindern, deren ältere Geschwister aus ökonomischen Gründen die Schule verlassen mussten, um die Eltern bei der Arbeit zu unterstützen. Indem sie sich durch ihre körperliche Kraft mit den Eltern solidarisierten, konnten die jüngeren Geschwister weiter zur Schule gehen. Eltern, die unermessliche, todbringende Arbeit in einer unmenschlichen, gewissenlosen Lage erbringen mussten. Der Vater aus politischem Grund in Haft, die Mutter zusammen mit den Kindern in der kleinen, beschädigten und dunklen Wohnung, wo sie Stickarbeiten verrichteten. Indem wir dieses Leben erlebt haben, ja von solch einem Leben und solchen Konditionen ausgehend, haben wir unsere Künste für die Veränderung dieses Lebens als politischen Akt zum Erscheinen gebracht und dieses Leben nach außen hin kommuniziert. Die Erfahrungen und das Wissen unserer Eltern haben wir mindestens in unserem Leben und unserer Kunst verkörpert, damit das nicht-koloniale, nicht-kapitalistische Wissen und dessen Lebenswege von Generation zu Generation weiter existieren und wir die Hoffnung nicht verlieren, dass Gerechtigkeit geboren werde.
Solidarität im Kapitalismus
Wir wurden zu Hause von unseren Eltern gut unterrichtet, ausgebildet und geschult. Von ihnen haben wir gelernt, wie wir Macht und Geld in unserem Leben nicht als unser Individuelles, nicht als Teil unseres Charakters betrachten können. Wir haben gelernt, niemals zuzulassen, dass Macht und Geld unser Leben beeinflussen, und wie wir verhindern können, dass wir sie uns als Ziel im Leben setzen. Wir haben gelernt, dass wir unter allen Bedingungen Liebe und Kunst nicht vergessen sollen. Wenig zu essen, aber Solidarität zu zeigen. Nicht zu schweigen, sondern zu sprechen und ein bewusstes Leben zu führen.
Die vom Kapitalismus entfachten Gewaltwellen und Kriege haben sich gegen uns gewandt und konnten doch diese Gefühle und dieses Wissen lange nicht unterdrücken, wie sie es wollten. Wir haben angefangen zu singen. Trotz der Verbote haben wir unsere Muttersprache gelernt und die Bedeutung unserer Namen. Wir haben nicht zugelassen, dass diese Gewalt in uns eindringt und die Gefühle verwüstet. Unsere Künste haben dort angefangen, wo die Reichen und die Mittelschicht nicht mehr mit uns zusammenleben wollten und wir alleine unter uns gelebt haben.
In diesen Schwierigkeiten und mit diesen Problemen haben wir angefangen, das Licht mehr und mehr zu sehen, das Lebendige in unseren Körpern mehr und mehr zu spüren, es wachsen und blühen zu lassen. Mit Solidarität haben wir unser Wissen und unsere Erfahrungen visuell zum Ausdruck gebracht, unsere Sprache für unser Wissen entwickelt und offenbart. Diese und das, was wir hatten, mussten wir alles dort lassen, wo wir gelebt haben, und alleine mit unseren Gefühlen gefährliche Wege wählen, um irgendwo auf dieser Erde leben zu können.
Klassenabstieg als Folge von Flucht
Flucht verwüstet leicht und schnell alle deine Kapitalarten und fesselt dich an einen absoluten und extremen Klassenabstieg. Fast dein ganzes Kapital ist davon betroffen, sei es finanziell, kulturell, sozial oder symbolisch. Dies gilt insbesondere für Minderheiten, wie politisch verfolgte Künstler*innen, und vor allem für Künstler*innen aus Zahmatkesh-Familien[2], die im Exil leben. Diese sind vielfach und noch intensiver betroffen.
Flucht bedeutet auch, dass deinem Wissen und deinen Abschlüssen ihr Wert genommen wird. Deine Sprache hilft dir auch nicht, sie hat keinen Wert, besonders, wenn deine Muttersprache eine nicht-koloniale, verbotene oder gefährdete Sprache ist. Die Wege, die Kinder aus Zahmatkesh-Familien in ihrem ersten Land gegangen sind, um sich Zugänge zur Kunst und Kultur zu verschaffen, waren bereits dort nicht leicht. Durch Flucht und im Exil, in einem neuen Land, wird es noch sehr viel komplexer und schwieriger.
Kunst und das politische Selbstverständnis der Linken
Zugänge zu Kunst und Kultur sind, wie ich denke, in vielen Ländern klassistisch. Zum Beispiel in Kurdistan, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Es gibt aber Solidarität und Verbundenheit. Die Linke und die progressiven politischen Bewegungen in Kurdistan sind seit ihren Anfängen an Literatur, Musik und Kunst sehr interessiert. Sie glauben, dass es Kunst braucht, um soziale und politische Veränderungen zu erreichen. Daher gab es und gibt es politisch engagierte Künstler*innen (hier in Deutschland würde man sie als Kunstvermittler*innen bezeichnen), die Kinder aus Zahmatkesh-Familien unterstützen. Sie wollen die Perspektive der Arbeiterkinder in und durch die Kunst sichtbar machen. Meine Erfahrung und die Kunstprojekte in Berlin, die ich zusammen mit politischen und progressiven linken Gruppen entwickelt habe, haben mir gezeigt, dass diese Tradition hier noch sehr schwach ist. Ich habe den Eindruck, dass hier in Deutschland die linke progressive Bewegung, die mehrheitlich aus weißen Deutschen besteht, glaubt, dass Kunst an sich kapitalistisch ist. Meine Zusammenarbeit als Künstler und die Kunstprojekte, die ich mit diesen Gruppen entwickelt habe, haben mir gezeigt, dass diese Gruppen nicht an die Bedeutung und das Gewicht, Wirkung und Mut, Potenzial und Bewegung von Kunst glauben, insbesondere Kunst von Geflüchteten.
Zugangsbarrieren zum Kunst- und Kulturbetrieb
Auf der anderen Seite braucht es in einem akademischen, institutionellen Kontext im globalen Norden zumeist einer formalisierten Kunstausbildung, um künstlerisch tätig zu sein. Der Zugang zu westlichen Kunstakademien und Kulturinstitutionen ist für Künstler*innen aus marginalisierten Minderheiten, die solch ein Leben hatten, beinahe unmöglich und, wenn er doch möglich ist, dann bist du plötzlich in ein komplexes System mit komplexen Prinzipien verwickelt. Hier, in diesen westlichen Kunstakademien und im Kulturbetrieb, ist die erste Supermacht und Superstruktur das Kyriarchat[3], nämlich das Prinzip von Privileg und gleichzeitiger Unterdrückung. Das ist die Erfahrung, die ich persönlich im Masterstudiengang an der Universität der Künste Berlin (UdK) gemacht habe, und das, was ich von anderen Unterdrückten (meistens BIPoC, aber auch weiße Bürger*innen/Migrant*innen aus Osteuropa) mitbekommen habe. Solche Institutionen haben uns das Privileg gegeben, da sein zu dürfen, haben uns aber auch sehr unterdrückt.
Indem es mir ein Privileg gibt, unterdrückt das kyriarchale Prinzip, das in westlichen Kunst- und Kulturinstitutionen herrscht, andere Personen. Personen, die das gleiche Leben und die gleiche Kindheit hatten wie ich und auch geflüchtet sind, aber im Gegenteil zu mir ausgeschlossen werden. Ich zum Beispiel wurde als Geflüchteter mit unbegrenztem Aufenthaltstitel[4] an der Uni aufgenommen. Das macht mich privilegierter als andere geflüchtete Künstler*innen, die eben nicht aufgenommen wurden und auch aus einer Zahmatkesh-Familie kommen. Das Wissen dieser geflüchteten Künstler*innen ist in Gefahr, weil sie hier keinen Abschluss machen können und ihr Wissen und ihre Abschlüsse, die sie in ihrem Land gemacht haben, nicht respektiert werden. In diesem Fall nutzt die Kunstakademie mich, um durch meinen privilegierten Zugang zu institutionellem Wissen und Anerkennung neue Formen der Unterdrückung gegenüber anderen Personen aus meiner Minderheit zu schaffen. Nach meinem Abschluss an der UdK habe ich erkannt, wie privilegiert ich bin im Vergleich zu einer anderen Person mit Fluchterfahrung, die auch aus einer Zahmatkesh-Familie kommt und hier versucht hat zu studieren und nicht aufgenommen wurde. Denn nun hat sie diese Art des Kapitals nicht, ich aber habe sie.
Natürlich haben diese Privilegien im Endeffekt mein künstlerisches Leben und mein Leben allgemein nicht groß verändert. Aber trotzdem sehe ich diese Unterdrückung. Ich habe Solidarität bekommen, um am Ende diese Privilegien zu haben; ich wurde sechs Monate von Freund*innen unterstützt, damit ich an der UdK genommen werde: Von der Anerkennung meines Bachelor-Zertifikats über Lebenslauf, Portfolio, Übersetzungen und unterschiedliche Beratungen bis hin zur Vorbereitung, um die Präsentation für die Aufnahmeprüfung zu üben. Meine WG musste mehrmals Uni-Kommission spielen und mit mir zusammen üben, damit ich diesen Erfolg habe.
Der bürokratische, klassistische Aufnahmeprozess macht diesen Weg sehr schwierig für Künstler*innen wie mich, die wenig Kapitalarten in ihrem Leben im Westen haben. Noch schwieriger ist es für Geflüchtete mit Duldungsstatus – ich denke eigentlich unmöglich. Es gibt viele, die in unserer Stadt Berlin leben und diese Solidarität nicht erfahren. In Kurdistan-Iraq, wo ich auch mit Geflüchtetenstatus gelebt und mein erstes Kunststudium abgeschlossen habe, hat der Aufnahmeprozess nur einen Tag gedauert: Die Person, die die Entscheidung getroffen hat, war selbst ein Arbeiterkind und aus einer Zahmatkesh-Familie.
Diskriminierungserfahrungen an der Kunsthochschule
Westliche Kunstakademien heißen alle Studierenden, die aufgenommen wurden, gleich willkommen, aber nur am ersten Tag und dann ist dieser schöne Tag vorbei! In deinem ersten Seminar wirst du von deinem Dozenten rassistisch behandelt, er nennt dich vielleicht „dumm“. Danach wirst du zur Zielscheibe für eine andere Dozentin. Alle möglichen Diskriminierungsformen finden statt. Ein System, das ständig dein Wissen, deine Identität, deine Künste verprügelt. Ein System, das deine Identität zu reduzieren versucht, bis du zu dem Punkt kommst, an dem du dich nicht mehr wie ein Künstler fühlst.
Geflüchtete, nicht-weiße Menschen, aber auch weiße Nicht-Deutsche (z.B. aus Ost- oder Südeuropa) werden an Kunsthochschulen nicht einzig von weißen deutschen männlichen Dozenten diskriminiert. Es gibt auch andere Gruppen, die selbst Unterdrückung erfahren und deren Identität zu reduzieren versucht wird, die trotz ihrer eigenen Diskriminierungserfahrung Minderheiten wie Geflüchtete, BIPoC und weiße Nicht-Deutsche unterdrücken. Zu diesen Gruppen zählen zum Beispiel weiße deutsche weibliche Dozentinnen, die das Privileg einer Professur haben, also Macht.
In einem Gespräch erzählte mir ein studentisches Mitglied der Fachschaft, dass in einem Jahr zehn Beschwerden wegen Diskriminierung eingereicht wurden. Auf ein Schreiben des Antidiskriminierungsnetzwerkes Berlin, bei dem ich eine Beschwerde eingereicht hatte, antwortete eine weiße deutsche Dozentin, dass meine Arbeit „mit drei anderen Kolleg*innen [...] des Instituts zuvor gescheitert sei“, was nicht stimmt. Um sich zu rechtfertigen und mich zu delegitimieren, schrieb sie aber nicht, dass ihr Kollege, ein weißer deutscher Dozent, zur Fachschaft gesagt hat: "Ich war schonmal im Ausland. Arabische Künstler unterdrücken ihre Frauen“. Oder, dass er mich in seinem Seminar dumm genannt hat, obwohl sie und alle darüber Bescheid wussten. Sie hat mich zum Problem gemacht und die Probleme, die ich hatte, also Rassimus und Diskriminierung, verschwiegen. Kapitalismus forciert ein solches System durch sein Geld und das Versprechen von Profit und Macht. Er nutzt solche Menschen und deren Netzwerke, in- und außerhalb der Kunstakademie, und nimmt ihnen ihr Gewissen. Das Wissen von Geflüchteten aus Zahmatkesh-Familien wird durch Menschen in Machtpositionen, die sich ihrer Position und Ihrer Macht sicher sein können, unterdrückt. Auch wenn sie sich nach außen als Freund*innen oder Unterstützer*innen zeigen, schließen sie andere aus, nehmen sie nicht ernst, bleiben nicht bei ihrem Gewissen und bei der Wahrheit, sondern lügen, um ihre Position zu verteidigen.
Unfreiwillige Abschiede von der Kunstwelt
Die Wahrheit ist, dass ich mich dreimal in meinem Leben von der Kunstwelt verabschiedet habe. Das erste und zweite Mal in Kurdistan aus ökonomischen Gründen, aber ich konnte zurück. Ich habe viel Solidarität von meinem Kunstlehrer, meiner Familie und Community erfahren. Beim ersten Mal hat mein Kunstlehrer sich Zeit für mich genommen, mein Problem ernst genommen und ist mit mir und seinem besten Schüler, der auch mein bester Freund war, spazieren gegangen. Er hat mich empowert und mir gezeigt, dass der Kapitalismus unsere Verbindung nicht zerstören wird. Dieser Lehrer hatte selbst ökonomische Schwierigkeiten. Er konnte sein Kunststudium abschließen, musste danach als Taxifahrer arbeiten und hat trotzdem für wenig Geld unterrichtet. Zusammen mit 30 anderen Künstler*innen hat er den ersten Verband bildender Künstler*innen in der Stadt gegründet, bei dem ich auch war. An dem Tag unseres Spaziergangs, am Ende eines langen Gespräches, hat er mir gesagt: „Du gehst, aber du kommst zurück zu uns!“ Und ich konnte zurück, weil es eine Verbundenheit gab und die Solidarität meiner Familie und Freund*innen. Der Freund aber, der an dem Tag dabei war, hat, nachdem sein Vater gestorben ist, aufgehört Kunst zu machen, denn er musste zur Arbeit gehen und seine Familie unterstützen.
Das dritte Mal war in Berlin und zwar nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil ich meine eigene Geschichte, Sprache und Kunst gezeigt habe. Westliche Kunst- und Kulturinstitutionen möchten diese aber nicht sehen. Aber anstatt zu erklären, warum sie es nicht möchten, verlassen sie sich weiter auf das Prinzip des Kyriarchats. Sie wissen, dass es genug Menschen gibt, die bereit sind, für wenig Privilegien und Macht bei Unterdrückung und Ausschluss mitzumachen. Diese Menschen müssen nicht unbedingt AfD-Mitglieder sein, sondern können auch Dozent*innen, Kunstvermittler*innen und Kulturschaffende sein.
Die Worte meiner Mutter reflektieren heute noch mein Leben. Sie hat gesagt: „Rola[5], die, die immer kämpfen müssen, sind die Zahmatkesh. Für die Reichen ist es doch egal, welches System herrscht, sie sind immer Teil dieses Systems. Die, die immer kämpfen müssen, sind wir.“
and when we speak we are afraid
our words will not be heard
nor welcomed
but when we are silent
we are still afraid
So it is better to speak
remembering
we were never meant to survive.[6]
Text: Wirya Budaghi
Künstlername: Wahshi Kuhi
(Lektorat: Lisa Schwalb, Thomas Lindenberg)
[1] Aus dem Film „Die Hoffnung“ (1970) von Yılmaz Güney, einem kurdischen Filmemacher und Schriftsteller. „Die Hoffnung“ ist die Geschichte einer Zahmatkesh-Familie (siehe Fußnote 2). Es ist die Geschichte von einem Vater, Cabbar (Güney selbst spielt diese Rolle), der mit seiner Frau, fünf Kindern und einer alten Mutter ein grausames Leben lebt. Die Familie versucht in einer feuchten und dreckigen Wohnung zu überleben. Cabbar hat keinen guten Job und viele Schulden. Seine einzige Hoffnung sind die Lottoscheine, die er ständig kauft. Er hat seine Hoffnung an diese Zettel gebunden. In diesem Film zeigt Güney die sozioökonomische Ungerechtigkeit des Systems. Er zeigt Menschen, die alleine kämpfen und keine Solidarität bekommen, die keine andere Wahl haben und deren einzige Alternative das Vertrauen auf Glück ist.
[2] Zahmatkesh ist eins der Wörter, die in der kurdischen Sprache benutz werden, um Arbeiter*innen zu bezeichnen, insbesondere diejenigen, die keine Arbeit finden. Auf Deutsch wird das Wort mit „arm“ übersetzt. In der kurdischen Sprache wird „Zamatkesh“ von linken Bewegungen als ein empowerndes Wort verwendet.
[3] Das von Elisabeth Schüssler Fiorenza geprägte Wort „Kyriarchat“ beschreibt das Wirken miteinander verbundener, interagierender, multiplikativer Systeme von Herrschaft und Unterwerfung, in denen dieselbe Person in einem Kontext unterdrückt und in einem anderen Kontext privilegiert sein kann. Der Begriff wurde häufig auch von dem kurdischen Aktivisten und Journalisten Behrouz Boochani verwendet, um die systematische Unterdrückung der australischen Immigrationspolitik zu beschreiben.
[4] Ich habe hier in Deutschland eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, aber noch keine Staatsbürgerschaft. Seit 2003 habe ich keine Staatsbürgerschaft. Von 2003 bis 2011 war ich als Geflüchteter in Kurdistan-Iraq, dort immer mit einem drei, manchmal sechs Monate gültigen Aufenthaltstitel. Ich habe dort als sebständiger Künstler, Journalist und Grafikdesigner gearbeitet. Dank des Schutzes des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) durfte ich nicht nach Iran abgeschoben werden. Die iranische Revolutionsgarde hat 2010 meinen Namen als Anarchist und gefährliche Person für die iranische Staatssicherheit gelistet und mich mit der Todestrafe bedroht. Im Februar 2012, nach einer sechsmonatigen illegalen Reise durch mehrere Länder, wie z.B. Türkei und Griechenland, landete ich in einem großen Gefängnis / Heim für Geflüchete in Bayern. Danach wurde ich nach Niederbayern in ein anderes Heim transportiert, wo ich bis März 2013 mit einer auf 30 Kilometer beschränkten Residenzpflicht leben musste. Ich musste warten, bis ich eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis bekam und nach Berlin umziehen konnte.
[5] “Rola” lässt sich mit “mein Kind” übersetzen.
[6] Audre Lorde. Litany for Survival
Kurzbiografie:
Wahshi Kuhi (Wirya Budaghi) (geboren am 23. August 1979) ist ein kurdischer Performance-Künstler und Aktivist. Sein MA absolvierte er am Institut für Kunst im Kontext, an der Universität der Künste zu Berlin. Budaghis Arbeit beschäftigt sich mit politischer Macht, speziell in Kurdistan, aber auch mit dem Kontext von Migration in Deutschland. In seinen Performances thematisiert Wirya staatliche Gewalt, militärische Angriffe und das Recht auf Muttersprache. Er ist politisch aktiv, indem er sich an Menschenrechtsaktivitäten mit Minderheiten beteiligt. Budaghis Performances bilden Übertragungen am eigenen Körper von Beziehungen, Zensur, Dauer und Nachhaltigkeit, um Unterdrückung, Sichtbarkeit und Patriarchat zu kommentieren.
Über die Kalligraphie:
Der Text hier, der mit "Es lebe die Kunst der Arbeiterklasse" übersetzt wurde, ist eine Transformation eines politischen Slogans aus Kurdistan/Iran, der im Original "Es lebe die Revolution der Arbeiterklasse" oder in einem anderen Beispiel "Funkelnder Kampf für Freiheit" lautet. Es handelt sich dabei um Abwandlungen illegalisierter politischer Slogans, die von Aktivisten seit 1979 kontinuierlich und intensiv an die Wände von Städten und Dörfern in Kurdistan/Iran geschrieben wurden, um den Menschen Hoffnung auf Freiheit zu geben und für Veränderungen zu kämpfen. Als Wirya ein Kind war, sah er viele dieser Slogans am frühen Morgen, bevor er zur Schule ging. Am Mittag waren die Slogans bereits von der iranischen Revolutionsgarde, die das Land seit etwa 1985 besetzt hält, entfernt worden.
Die Schwierigkeit, als geflüchteter Künstler und als jemand, der in westlichen Kunst- und Kultureinrichtungen Klassismus erlebt, zu existieren, erinnert Wirya an eine Zeit in seinem Leben, in der politische Äußerungen unmöglich waren und sich auf ein paar starke Worte beschränkten, um Hoffnung auf Veränderung und Gleichheit in der Zukunft zu wecken.
Wirya ist der Meinung, dass Kunst- und Kultureinrichtungen im Westen ungleich und unfair gegenüber der Kunst, dem Wissen und der Erfahrung von geflüchteten Künstler*innen aus der Arbeiterklasse und von Menschen sind, die vielfältige Formen der Diskriminierung erleben. Dieses Werk ist eine Botschaft an Menschen, die sich in der gleichen Situation wie Wirya befinden. Es ist eine Botschaft, weiter für den Wandel zu kämpfen.
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